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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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Große. Er sieht
weder fromm noch besonders gütig aus. Welche Verdienste haben ihn mit Maria und
Petrus auf die gleiche Ebene gebracht? Die Antwort ist eindeutig: Zwei mit
Geschenken bepackte Diener folgen ihm.
    Die anekdotierenden Darstellungen der
Hölle sind makaber, aber auch witzig. So wird ein auf den Spieß gezogener Jäger
von einem Hasen überm Feuer geröstet. Und den Oberteufel mit allen seinen
überdimensionalen Körperteilen hier zu beschreiben, verbietet mir die gute
Sitte und Moral.
    Das Innere der dreischiffigen Kirche überrascht
mit seinen ungewöhnlichen Proportionen. Durch die Hanglage und den damit
bedingten Mangel an waagerechter Baufläche ist der Bau relativ kurz geraten.
Der von dem Reichtum des Klosters gebotenen Großzügigkeit der Bauabmessungen
wurde dadurch Rechnung getragen, daß man für diese Zeit ungewöhnlich hoch
hinaus baute. So entstand ein eher für die späteren gotischen Räume typisches
Raumverhältnis, das den romanischen Bauformen eine besonders interessante neue
Ansicht verleiht. Ein atemberaubend schönes Gotteshaus!
    Da man für die Aufnahme der
Pilgermassen viel Platz benötigte, wurde das Querschiff großzügig bemessen.
Auch die hohen und breiten Emporen sowie die zahlreichen Chorkapellen dienten
dem Zweck, die Schar der Gläubigen zu ordnen, zu verteilen, unterzubringen.
    Die neben der Kirche befindliche
Schatzkammer ist die reichste Sammlung mittelalterlicher Goldschmiedekunst, die
es in Frankreich gibt. Dieser außergewöhnliche Reichtum ist den Einwohnern des
Dorfes zu verdanken, die in den Wirren der Revolutionszeit den Kirchenschatz
verbotenerweise in ihren Häusern versteckt und bewahrt haben. Was aber wahrlich
einem Wunder gleichkommt: Sie haben den unermeßlich weitvollen Schatz nach der
Revolution vollständig zurückgebracht. So können wir heute zahlreiche Meisterwerke,
beispielsweise Reliquiare und kleine Tragaltäre aus dem 9. bis 12. Jahrhundert
sowie einige schöne Prozessionskreuze aus dem 15. und 16. Jahrhundert,
bewundern. Das Prunkstück der sehenswerten Sammlung ist die Majestät der Heiligen Fides genannte
Reliquienstatue. Der Kopf der auf einem Thron sitzenden gekrönten Figur stammt
aus dem 5., ihre Krone aus dem 10. Jahrhundert. Der archaische Gesichtsausdruck
erinnert eher an einen jungen Mann als an ein junges Mädchen. Die goldene
Plastik ist überreich mit Edelsteinen bestückt. Dabei wurden auch viele
römische Schmucksteine verarbeitet, die plastische Darstellungen von antiken
Göttern zeigen. Eine merkwürdige Zusammenstellung: eine christliche Heilige mit
heidnischen Gottheiten geschmückt.
    Den Nachmittag verbringe ich in einem
Café, wohin ich mich vor den zahlreichen Gewittern zurückziehe. Eine gute
Gelegenheit, einige Dutzend Ansichtskarten zu schreiben.
     

 
Dienstag, am 6. Mai
Von Conques nach Livinhac- l e-Haut
    Bevor wir uns heuteauf
den Weg begeben, werden wir in der Kirche in einem feierlichen Akt, in einer Benediktion, gesegnet.
    In dieser frühen Morgenstunde haben
wir, sechs Pilger und drei Mönche, den majestätischen Raum für uns ganz
alleine. Unsere Stühle im Chor bilden einen Kreis: Eine Anordnung, die den
Unterschied zwischen Geistlichen und Laien für die Zeit des Gebetes einebnet
und uns Außenstehende an dem Mysterium des Augenblicks teilhaben läßt. Wir
singen gregorianische Gesänge, indem einer der Priester, der mit einer wunderbaren
Sprech- und Singstimme gesegnet ist, uns zwei Zeilen vorsingt, die wir singend
wiederholen. Das Loblied hebt sich, wie Weihrauch, bis in die hohen Gewölbe, wo
es widerhallt so, als ob Engel in unseren Sängerchor einstimmen würden. Danach
wird ein altes französisches Pilgergebet vorgetragen, das ich anschließend in
der deutschen Übersetzung laut vorlesen darf. In dem Gebet bitten wir Gott, uns
auf dem langen Weg zu beschützen, Licht in der Dunkelheit und Schatten in der
Hitze zu spenden, damit wir unser Ziel erreichen.
    Ich bin überwältigt: Obwohl mir die
Tränen fließen, höre ich mich mit fester Stimme das Gebet vorsagen. Ich fühle
mich leicht, als ob alle Sorgen und Zweifel von mir gewichen wären. Ich weiß,
daß ich mein Ziel erreichen werde! Ich habe mich noch nie so sicher gefühlt!
    Zum Abschied werden wir von einem der
Mönche, von einem ehrwürdigen Greis, gesegnet. Jeder von uns erhält ein
Brötchen für die Stärkung des Körpers und ein Heft, das Johannes-Evangelium,
für die Stärkung der Seele. Dann werden die Tore geöffnet: Wir verlassen

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