Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
von anderen
Menschen entfernt, in einer dieser einsamen Steinhütten in der Einöde. Dabei
ist sie höchstens fünfundzwanzig. Ihre auffällige Fröhlichkeit und
Freundlichkeit erstaunt und verwirrt mich. Sie entspricht in keiner Weise
meinen Vorstellungen über einen asketischen Eremiten, dem ich das einsame Leben
in dieser rauhen Landschaft zuordnen würde. Wie lange ich wohl diesen
meditativen Reizentzug ertragen könnte? Auch die anderen Mitglieder unserer
Gruppe scheinen mit dieser Frage beschäftigt zu sein: Unsere Gespräche kreisen
noch lange um diese junge mutige Frau.
Bald erblicken wir die massiven Türme
des etwas tiefer gelegenen ehemaligen Klosters Aubrac. Es wurde am Ende des 11.
Jahrhunderts von dem wenig bekannten Orden
von Aubrac erbaut. In der Glanzzeit der Pilgerei, als die
Pilgerstraße noch mitten durch den damals sehr umfangreichen Gebäudekomplex
hindurch lief, der außer Kirche, Kapelle, Kloster und Wirtschaftsbauten auch
ein Hospiz für kranke Pilger umfaßte, konnten hier Hunderte von Pilgern
gleichzeitig Unterkunft und Verpflegung finden. Um verirrten Pilgern
Orientierungshilfe zu geben, hat man an nebligen Tagen pausenlos eine Glocke
läuten lassen.
Von den ehemaligen Gebäuden stehen nur
noch wenige. Die Kirche, ein schlichter aber riesiger romanische Raum, ist
völlig leer. Sie macht eher den Eindruck einer Scheune als eines Gotteshauses.
Nach Aubrac senkt sich der Weg ins Tal
des Flüßchens Boralde hinunter. Auf dem immer steiler werdenden Fußpfad
begegnen uns zahlreiche Wanderer, die diesen sonnigen Feiertag für einen
Ausflug ins Grüne benutzen.
Unten im Tal schreibt die Natur eine
völlig andere Jahreszeit. Die Eßkastanienbäume, die an den steilen Talhängen
wachsen, sind üppig belaubt. Am schattigen Bachufer blüht schon das blaue
Vergißmeinnicht, am Wegrand die hochgewachsene Schafsgarbe und die leuchtend
roten Kerzen des Helmknabenkrautes.
Seit heute früh tut mein linkes
Schienbein immer stärker weh. Jack meint, ich solle meine Schuhe ganz locker
schnüren, das habe ihm auch geholfen. Ich befolge seinen Rat, auch wenn es
kurzfristig nichts nützt. Ich freue mich, als wir das Etappenziel
St-Chély-d’Aubrac erreichen.
Freitag, am 2. Mai
Von St-Ch é ly-d ’ Aubrac nach Espalion
Das Wetter könnte nicht
schöner sein, die Landschaft ist lieblich, die Menschen sind nett: Lauter gute
Voraussetzungen für eine angenehme Fortsetzung des Weges. Mir aber tut mein
Schienbein so weh, daß ich mir ernsthafte Gedanken darüber machen muß, ob ich
mit Michel, Pierre, Jack und Annemieke weiterlaufen kann. In den vier Tagen
habe ich mich sehr an sie gewöhnt und so würde ich sie nicht gern ohne mich
weiterziehen lassen. Ich beiße die Zähne zusammen. Es wird schon gehen.
Die kleinen Weiler und Höfe, die wir
passieren, sind halb entvölkert, die verlassenen Häuser zerfallen. In den
Ruinen sind viele der sonst unsichtbaren Bauteile frei geworden, so daß man die
alte Bautechniken gut studieren kann. Leider werden die so gewonnenen
Kenntnisse die Bauten auch nicht retten können: Die alten Baumethoden sind
unbezahlbar arbeitsintensiv.
Nach etwa vier Stunden erreichen wir
das am Fluß Lot gelegene Städtchen St-Côme-d’Olt. Die kleine runde Altstadt hat
ihren mittelalterlichen Charakter gut erhalten. Einige der Bauten und noch mehr
Bauteile zeigen noch Stilelemente der Entstehungszeit, die im 12. Jahrhundert
gelegen hat.
Espalion ist etwas größer als die
anderen Ortschaften seit Le Puy und es gäbe hier sicher vieles zu sehen, aber
die Unterkunft, die Michel uns organisierte, liegt etwa eine halbe Stunde
hinter der Stadt. Das alte Übel: Wir sind verschwitzt und müde, wir müssen
weiter.
Mein Fotoapparat hat endgültig das
Zeitliche gesegnet. Schade. Einen neuen kann ich mir erst in Cahors besorgen.
Samstag, am 3. Mai
Von Espalion nach Golinhac
Mein Bein tut nach wie vor weh und die Tagesstrecke bis Golinhac ist lang und
anstrengend. Ich muß mein eigenes Lauftempo wiederfinden. Heute will ich
alleine laufen.
Es ist wieder ein herrlicher
Frühlingstag. Nicht nur ich, auch die Vögel scheinen sich darüber zu freuen,
und diese Freude bringen sie mit überschwenglichem Zwitschern zum Ausdruck. Ich
lasse es langsam angehen.
Wie in einem romantischen Märchen
erscheint nach einer Straßenbiegung die malerische Stadt Estaing. Die jenseits
des Flusses zu einer Pyramide hochgetürmten Häuser des Ortes sind an der Spitze
von der mächtigen Burg der alten
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