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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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Adelsfamilie d’Estaing gekrönt. Im stillen
Wasser der Lot verdoppelt sich das plastische Bild des sonnenbeschienenen
Hügels.
    Ich überquere den Fluß auf der alten
Steinbrücke und betrete die schmalen Gassen, die vom Ufer zu der höhergelegenen
romanischgotischen Kirche Église de St-Fleuret fuhren. Von der einsamen Stille
des sakralen Raumes lasse ich mich zu einem kurzen Gebet einladen. Zurück an
der Uferstraße treffe ich alle meine Pilgerkollegen wieder; sogar Maurice mit
seinem Regenschirm und die drei Damen aus Deutschland sind da. Ich möchte
weiterhin alleine laufen, so warte ich, bis sie weiterziehen.
    Ich setze mich vor einem Café in die
Sonne; es ist wohltuend warm geworden. Die herumfliegenden Schwalben bieten mir
ausreichende Unterhaltung. Die verrückten Vögel drehen sich zu hunderten über
dem Fluß in einem engen Kreis, wobei sie ihren Flug mit überlautem Zwitschern
begleiten. Das ganze Spektakel erinnert mich an das bekannte Pferderennen palio in Siena.
    Wieder zurück auf dem linken Ufer der
Lot, wo blühende Akazienbäume die Luft versüßen, folge ich etwa eine Stunde
lang der schattigen Uferstraße. Dann ist dieser angenehme Spaziergang zu Ende:
Es folgen drei sehr steile Kilometer, manchmal auf schmalen Fußpfaden, die die
Haarnadelkurven der Straße abkürzen. Ich keuche und schwitze so, daß meine
Brillengläser sich an der Innenseite mit einer Salzkruste überziehen. Oben
angekommen suche ich mir einen schattigen Platz, wo ich mich zur Mittagsruhe
hinlegen kann. Die Ruhe ist wörtlich zu verstehen: Außer das Zwitschern der
Vögel und dem Summen von Insekten ist kein anderes Geräusch zu hören.
    Mein Glaube, die Mühe des heutigen
Tages mit dieser Steigung hinter mich gebracht zu haben, erweist sich als
Irrtum. Die restliche Strecke gleicht einer Achterbahn: dreißig Meter hinunter,
dann fünfzig hoch, nur kurz, immer wieder und wieder, steil und ermüdend. Ich
lasse mir viel Zeit und so kann ich die Schönheit des bewaldeten Weges
genießen. An den Böschungen wachsen Mengen von gelbem Habichtskraut und am Rand
einer Lichtung sehe ich die ersten blauen Kornblumen. Wenn die Bäume die Sicht
nach Nordosten freigeben, kann ich meinen Blick über das bewaldete tiefe Tal,
das jetzt hinter mir liegt, schweifen lassen.
    Als ich als letzter Pilger in Golinhac
ankomme, ist die Herberge bis auf den letzten Platz besetzt. Am Wochenende
findet hier ein Volkslauf statt, die Schlafplätze sind für die Wettläufer
reserviert. Bevor ich sorgen könnte, wo ich heute schlafe, treffe ich Michel,
der doch noch sechs Plätze organisiert hat, einen davon für mich. Ich freue
mich und als Dank und Anerkennung ernenne ich ihn mit sofortiger Wirkung zu
meinem persönlichen und ehrenamtlichen „Sekretär für Pilgerangelegenheiten“.
    Am Abend besuchen wir das einzige
Lokal, der in dem kleinen Dorf zu finden ist. Es ist eigentlich eine Bar und
kein Speiselokal, aber die Wirtin, als sie hört, daß wir sechs Personen sind,
erklärt sich bereit, für uns zu kochen. Das Menü ist rustikal deftig und
wohlschmeckend, und, wie meine französischen Pilgerbrüder bezeugen, typisch für
die bäuerliche Küche dieser Gegend, die man in Restaurants allerdings kaum mehr
findet. Die Menüfolge: Kohlsuppe, Tomatensalat, Rindersteak, Taligot, Käse,
Kaffee, in dieser Reihenfolge einzeln als selbständige Gänge serviert, dazu
Unmengen von Brot und Rotwein. Ich denke, die Hälfte des Gewichts, das ich in
elf Wochen abgenommen habe, habe ich heute wieder angefüttert.
     
     

Sonntag, am 4. Mai
Von Golinhac nach Conques
    In dieser frühen Morgenstundeist das weite Flußtal unter uns in Nebel gehüllt. Hier
oben schickt sich der Tag an, sommerlich und warm zu werden.
    Die ersten Kilometer folgen einem
Fußpfad. Das Gras ist taugetränkt, trotz guten Schuhwerks und langer Hosenbeine
bekomme ich nasse Füße. Die Rinder, die hier grasen, sind von einer anderen
Sorte: zwar ähnlich lang gehörnt wie die Tiere des Aubracs, aber sie haben ein
helles, fast weißes Fell. Auch hier dürfen die Stiere, Kühe und Kälber
gemeinsam ihre Tage verbringen. Wenn ich so eine Gruppe dieser großen und
friedlichen Geschöpfe anschaue, finde ich es besonders pervers, was den armen
Kreaturen in der Massenproduktion von Fleisch angetan wird.
    Später folge ich einer schmalen Straße,
die sich in engen Kurven nach Espeyrac hinunter schlängelt. Ich durchquere
dieses pittoreske Städtchen mit den steilen Gassen und Treppen und steige an
der

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