Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
die
Kirche und die Stadt auf dieselbe Weise und auf dem selben Weg, wie Millionen
Pilger vor uns es in all den Jahrhunderten getan haben. Ein unbeschreibliches
Glücksgefühl!
Es dauert eine Weile, wir befinden uns
schon vor der alten Pilgerbrücke im Tal, bis ich fähig bin, die Gegenwart
wahrzunehmen, und merke, daß es in Strömen regnet. Noch nie hat mir Regen so
wenig ausgemacht!
Hinter der Brücke steigt ein steiler schmaler
Pilgerpfad in die Höhe. Wir befinden uns in einem verwilderten dichten
Eßkastanienwald, der nicht mehr bewirtschaftet wird. Wer will noch auf diesem
steilen Berghang wie eine Bergziege für ein Paar Kilo Kastanien herumklettern?
Die Fußspur ist naß und verschlammt, das Gehen ist erschwert. Das Naß ist
allgegenwärtig, es fließt und plätschert vom Himmel und von dem Laub der Bäume.
Schmale Rinnsale bahnen sich ihren Weg talwärts, um nach einigen Metern in den
Nebelschwaden zu entschwinden.
Westlich von Noailhac befindet sich
neben der Straße eine einfache romanische St-Roch-Kapelle mit einer besonders
lebendigen Darstellung des Heiligen. Zu lange dürfen wir das Kunstwerk nicht
genießen: Der starke Regen wird uns von einem immer stürmischer werdenden Südwestwind
entgegen gepeitscht. Jetzt kann die Frage, wie der Regenschirm von Maurice sich
bewährt, nicht nur diskutiert, sondern auch beantwortet werden. Als eine der
Windböen das gute Stück in schmale Streifen reißt, bleibt kein Zweifel: Ein
Regencape ist für Pilger besser als ein Regenschirm.
Die Mittagspause verbringen wir im
Schutz eines seitlich offenen Daches für Landmaschinen. Wir akzeptieren die
Ölpfützen und den penetranten Ziegen- und Schweinegestank, aber die Kälte läßt
sich nicht ignorieren; wir frieren ganz erbärmlich. Trotzdem haben wir Glück,
diese Zuflucht rechtzeitig angetroffen zu haben, da über uns ein Gewitter mit
sintflutartigen Regengüssen tobt. So sind wir mindestens im Trockenen und
windgeschützt.
Vorbei an den Außenbezirken der wenig
verlockenden Stadt Decazeville müssen wir noch den Hügel mit dem Dörflein
St-Roch überwinden. Tief unter uns fließt der Lot, an der anderen Flußseite
sehen wir schon Livinhac-le-Haut, unser Tagesziel. Ein schmaler Hohlpfad führt
uns an dem bewaldeten Hang zur Brücke hinunter. Just hier werden wir von dem
nächsten Wolkenbruch erwischt. Der Hohlweg verwandelt sich augenblicklich in
einen reißenden Wildbach, in dem wir knöcheltief im Wasser waten. Viel macht
uns dies nicht mehr aus, da wir kaum noch nasser werden können, als wir schon
sind.
In der Herberge gibt es weder Wasser
noch Heizung: Ein Rohrbruch hat die Wasserversorgung unterbrochen. So kann ich
mich heute nicht duschen, obwohl ich einen Duft verbreite wie ein bei der
Treibjagd entkommenes Wildschwein. Für den Rest des Tages verziehen wir uns in
das Dorfgasthaus.
Spät am Abend ist die Wasserleitung
repariert, wir können uns ein einfaches Abendessen vorbereiten. Wie nachhaltig
uns das Erlebnis der Benediktion, die uns heute früh zuteil wurde, weiter beschäftigt,
zeigt sich, als das Essen auf den Tisch kommt. Wir bleiben, ohne uns
abgesprochen zu haben, alle stehen und hören zu, wie Jack in seiner
Muttersprache das improvisierte Tischgebet spricht.
Mittwoch,
am 7. Mai
Von Livinhac- l e-Haut nach Figeac
Heute ist ein trauriger Tag, ein Tag des Abschieds. Unsere gutbewährte
Pilgergruppe löst sich auf: Michel, Pierre und Maurice wollen das Tempo
verschärfen und auf einer südlich verlaufenden Route Cahors in vier Tagen
erreichen. Auch mit Annemieke und Jack laufe ich heute das letzte Mal: Sie
wollen in Figeac einige Tage Pause machen. Da ich den kommenden Landstrich von
zahlreichen Urlaubsfahrten her kenne, will ich von Figeac nach Cahors den etwas
längeren aber schöneren, im Tal der Célé verlaufenden nördlichen Weg nehmen.
Aus der Herberge kommend, erwartet uns ein Wetter zum Abgewöhnen: feucht,
windig und auffallen kalt. Wir verabschieden uns voneinander und ich schaue
traurig meinen französischen Pilgerbrüdern nach, wie sie sich schnell von uns
entfernen. Ich hätte nicht gedacht, daß nach den zehn Tagen, die wir
miteinander verbracht haben, der Abschied mir so schwer fallen würde. Ich bin
froh und dankbar, ihnen begegnet zu sein. Ich weiß, daß ich sie sehr vermissen
werde.
Die Feldwege, auf denen ich meine Reise
fortsetze, sind tief verschlammt. Auch wenn das himmlische Naß manche Pausen
einlegt, bleibt es unangenehm kalt. Unter dem Regencape sind
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