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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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von Zeit zu Zeit sogar notwendig, aber ich mache diesen
Weg nicht für sie, sondern nur für mich. Vielleicht für Gott. Für meinen Gott.
     
     

Sonntag, am 11. Mai
In Cahors
    Ich bin seit fünfundachtzig Tagen
unterwegs.Soll ich die Tage noch zählen? Gehört der
heutige Tag noch zu meiner Pilgerreise? Ich habe große Zweifel.
    Es regnet nach wie vor. Ich fühle mich
krank, ausgelaugt, müde. Schon aufzustehen bedarf einer großen Anstrengung. Ob
meine schlechte seelische Verfassung von den Nierenschmerzen verursacht wird?
Oder ist es eher umgekehrt?
    Die schöne Stadt ist nicht schuld an
meiner Stimmung. Cahors ist mir nicht unbekannt, im Gegenteil: Ich bin schon
oft hier gewesen. Trotzdem ist es mir, wie beim ersten Mal, immer wieder ein
großes Vergnügen, in der Altstadt oder am Ufer der Lot zu spazieren und die
Atmosphäre des Mittelalters, die zwischen den alten Gemäuern weht, einzuatmen.
    Im 13. Jahrhundert ist Cahors eine der
größten und reichsten Städte in Frankreich gewesen. Durch Zuwanderung
lombardischer Händler und Bankiers ist hier ein Finanzzentrum entstanden,
dessen Handelsbeziehungen von Skandinavien bis zu den levantinischen Ländern
reichte. Der Hundertjährige Krieg hat diese Blütezeit abrupt beendet. Zwar
konnte die gut befestigte Stadt nicht von den Engländern eingenommen werden,
aber durch einen Vertrag wurde sie 1450 dem Feind übergeben. Damit ist sie in
Bedeutungslosigkeit versunken.
    Das wichtigste Bauwerk der Stadt ist
die wehrhafte romanische Kathedrale St-Etienne. Sie wurde 1119 von Papst
Calixtus II. eingeweiht, von dem selben Papst, der den berühmten Codex Calixtinus mit dem schon
erwähnten Pilgerführer verfaßt haben soll.
    Das von zwei riesigen Kuppeln
überwölbte Längsschiff ist sehr beeindruckend, aber mich zieht es eher zu einem
kleinen versteckten geheimnisvollen Detail, das in dem Kreuzgang neben der
Kirche zu sehen ist.
    Auf einer gotischen Wandkonsole sind
zwei Personen zu erkennen, ein Jakobspilger mit Schlapphut und Muschel und eine
nach der Kleidung weibliche Person, die ihre Hand dem Pilger entgegenstreckt.
Diese zweite Figur ist stark verwittert; so sieht man nicht, ob sie etwas in
ihrer Hand hält, dem Pilger vielleicht etwas zu essen gibt oder ihm droht,
vielleicht gar ihn schlägt. Der Gesichtsausdruck des Pilgers ist gut erhalten
und ist alles andere als vergnügt. Eher habe ich den Eindruck, daß er weint.
Ich betrachte die Beiden schon seit Jahren, aber ich verstehe sie nicht.
     
     

Dienstag, am 13. Mai
In Cahors
    Ich habe sehr wenig und schlecht
geschlafen. Vielleicht kommt es von der Aufregung: Heute
nachmittag erwarte ich Rita.
    Ich wasche meine Sachen, ich räume die
Wohnung auf. Danach bin ich so müde, daß ich bei einer Tasse Kaffee am
Küchentisch einschlafe. Mittags gehe ich mit Marianne und Michel in ein Lokal
zum Essen. Mit dabei ist ein Freund der Familie, ein Deutscher, der Apotheker
in Hessen gewesen ist. Nach Ende seiner beruflichen Tätigkeit ist er mit seiner
Frau nach Frankreich gezogen, um hier seinen Lebensabend zu verbringen. Kaum
drei Jahre später, im vergangenen Winter, ist die Frau gestorben, ein Verlust,
den er schwer überwinden kann. Jetzt sitzt er mit drei Pferden und zwei Katzen
allein auf einem großen renovierten Bauernhof. Wir verstehen uns auf Anhieb und
er würde mich am liebsten heute, wenn er nach Hause fährt, für ein paar Tage
mitnehmen.
    Er fragt mich, ob ich beabsichtige,
über meine Reise etwas zu schreiben. In diesem Fall würde er sich freuen, wenn
ich sein Angebot, ein Art „Dorfschreiber-Stipendium“, annehmen würde: Er könnte
mir für die Dauer meiner Arbeit ein Zimmer mit Computer kostenlos überlassen.
Ich bin gerührt, auch wenn ich dieses Angebot nicht annehmen kann.
     
     

Samstag, am 17. Mai
Noch immer in Cahors
    Nein, man kann die Zeiten nicht aus dem Leben ausklammern oder in einer Schublade
verschwinden lassen, weder die guten, noch die schlechten. Auch diese Tage, die
ich hier in Cahors verbringe, gehören zu meiner Pilgerreise.
    Dienstag nachmittag ist Rita
angekommen, hübsch und jung, es ist eine Freude, sie anzuschauen und ich war
glücklich, sie wiederzusehen. Sie ist allerdings nicht allein gekommen: Sie hat
die ganze Last der Sorgen von Kassel mitgebracht. Ihre Schwester und ihr Vater
liegen im Krankenhaus. Er soll in den nächsten Tagen am Herz operiert werden,
was mit seinen zweiundsiebzig Jahren nicht ganz ungefährlich ist. Rita war
nervlich am Ende, und bevor wir uns

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