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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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meine
Kleidungsstücke klamm, und obwohl der Weg steigt, friere ich. Ich hoffe, in dem
einzigen größeren Ort bis Figeac, in Montredon, ein Cafe zu finden, aber diese
Hoffnung wird nicht erfüllt: Das Dorf ist wie verlassen. So kehre ich in die
Kirche ein, wo es in der Regel zwar auch nicht warm, aber mindestens trocken
ist.
    In der kleinen Eingangshalle werde ich
mit Hallo begrüßt: Annemieke, Jack und ein junger Holländer, Cees, sind dabei,
auf einem Kocher eine heiße Suppe zuzubereiten. Und ob ich welche möchte!? Ich
genieße die wohlige Wärme, die mit jedem Schluck wie neues Leben in mich
hineinfließt.
    Wir benutzen für das Weitere die
Landstraße, wo wir trotz Wind und Regen schneller vorankommen als an den
verschlammten Feldwegen. Bald erreichen wir St-Felix, wo eine kleine romanische
Dorfkirche über den wenigen Häusern wacht. In dem halbkreisförmigen Bogen über
dem Eingang ist eine archaische Darstellung von Adam und Eva mit der Schlange
zu sehen. Die volkstümliche Plastik ist über achthundert Jahre alt.
    Den Rest der Landstraße bis Figeac
buche ich als Fronarbeit ab.
    Die mittelalterliche Stadt Figeac, die
immerhin elftausend Einwohner hat, besitzt zwölf Hotels, aber keine einzige
Herberge für die Pilger. Ich nehme mit Cees, den ich heute kennengelernt habe,
ein Doppelzimmer mit Bad und genieße den gebotenen Komfort.
     
     

Donnerstag, am 8. Mai
Von Figeac nach Espagnac
    Heute ist Himmelfahrt. Derbesagte Himmel ist zu diesem Feiertag unpassend grau, die
Luft feucht und so kalt, wie im Februar, als ich losgegangen bin. Wir schreiben
aber Mai! Das dieser wunderbare Landstrich, mein geliebtes Quercy, mich so
empfängt, habe ich nicht erwartet!
    Ich bin wieder allein; die Erinnerung
an meine Pilgerfreunde hängt mir nach und drückt meine Stimmung. Andererseits
bin ich in einigen Tagen in Cahors, wo mich gute Freunde erwarten und wo ich
meine Frau, die ich sehr vermisse, treffen werde. Allerdings ist die Freude
darauf nicht ungetrübt. In den letzten Wochen hat sich ein Gefühl von
undefinierbarer wachsender Fremdheit zwischen Rita und mir eingeschlichen. Die
Anfänge dieses Gefühls kann ich zeitlich gar nicht festmachen, vielleicht
wollte ich es nicht wahrnehmen. Jedenfalls waren unsere Telefongespräche in den
letzten Tagen beunruhigend formal. Ich bin traurig und habe dafür keine
Erklärung. Das Treffen mit Rita kann ich kaum erwarten; gleichzeitig habe ich
Angst davor.
    Ich begegne einer Bäuerin, die mir mit
einem Gemüsekorb beladen entgegenkommt und mir freundlich lächelnd zuruft:
„Beten Sie für mich in Santiago!“ und mit schnellen Schritten ihres Weges
weitergeht.
    Meint sie das ernst, oder ist es nur
eine Begrüßungsformel? Und warum sollte sie das nicht ernst gemeint haben, wenn
es eine Begrüßungsformel ist? Wichtig ist, was diese Bitte für mich bedeutet,
ob ich sie erst nehme.
    Ich möchte sie ernst nehmen. Eine
fremde Frau bittet mich, in dem fernen Santiago für sie zu beten. Sie zweifelt
nicht daran, daß ich dort ankommen werde, und sie meint, daß ein von mir
gesprochenes Gebet für sie nützlich sein wird. Selten habe ich es erlebt, daß
ein unbekannter Mensch mir so viel Vertrauen entgegen bringt. Ich fühle mich
geehrt und nehme diesen Auftrag mit Freude an.
    In Corn treibt mich ein besonders
heftiger Regenschauer unter das weitausladende Vordach einer Scheune. Zehn
Meter von mir, am Rand der Landstraße, baden sichtlich vergnügte Enten in einer
eben entstandenen großen Regenpfütze. Ein Auto bleibt stehen. Die Frau auf dem
Beifahrersitz dreht das Fenster halb herunter und ist über die Tiere entzückt.
Sie holt eine Videokamera und nimmt die Badeszene auf. Plötzlich springt der
Mann an der Fahrerseite aus dem Wagen, reißt die Hintertür auf und prügelt
schreiend vor Wut auf das Wageninnere ein. Ich sehe einen Hund auf dem Rücksitz
hin und her springen und frage mich, warum dieser Mensch seinen Hund so
tierisch schlägt. Er steigt wieder ein, wendet und als sie an mir vorbeifahren,
sehe ich, daß neben dem Hund ein weinendes Kind sitzt. Nicht dem Hund, dem Kind
galten die Schläge.
    Die Mutter hat während der ganzen Zeit
gefilmt, ohne sich auch nur einen Augenblick lang von den Enten ablenken zu
lassen.
    Das bewaldete Flußtal wird immer enger.
Am Wegrand wächst die seltene Wald-Akelei, eine alte Heilpflanze. Bis jetzt
habe ich die besonders schönen blauen Blüten nur auf Abbildungen gesehen; hier
gedeihen sie in großer Anzahl.
    Nach der Brücke von

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