Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
richtig begrüßen konnten, hat sie schon
erwogen, wieder nach Hause zu fahren. Ich war der Meinung, sie in dieser
Situation nicht alleinlassen zu können und habe ihr angeboten, mit ihr nach
Hause zu fahren. Ich dachte, vielleicht kann ich, wenn ich die Kraft dazu
finde, im nächsten Jahr von hier weiterlaufen, dann allerdings ohne Handy und
ohne Verabredungen.
Erst als sich am nächsten Tag
abzeichnete, daß der notwendige Eingriff etwa zwei Wochen hinausgeschoben wird,
hat sie sich entschlossen zu bleiben. Sie wollte allerdings nicht mit mir
wandern: Sie ist der Meinung, daß dieser Weg mein Weg ist und sie auf diesem
Weg nichts zu suchen hat.
Es trifft zwar zu, daß dieser Weg mein
Weg ist, aber sie wollte mich doch ein Stück begleiten!? Meine Enttäuschung
kann ich kaum verbergen. Ich bin tief betrübt und erschrocken. Ich habe diese
Reise seit Jahren geplant, selbstverständlich mit ihrer tatkräftigen Hilfe und
ihrem Einverständnis. Woher dieser Wandel? Welche Gründe hat diese heftige
Ablehnung? Ich bin wie gelähmt. Was soll ich jetzt machen? Sie beklagt meine
vermeintliche Verständnislosigkeit für ihre Lage. Sie ist nur gekommen, weil
wir es vor Wochen so besprochen hatten. Sie wollte, trotz der schweren
Erkrankung meines Schwiegervaters, ihr Wort halten und ein wenig von meiner
Einsamkeit nehmen. Sie will bis nächste Woche Donnerstag bleiben und danach
allein den Heimweg antreten, da sie nicht die Verantwortung dafür übernehmen
könnte, wenn ich mein Vorhaben nicht zu Ende führte.
So wird mein Aufenthalt in Cahors auf
zwölf Tage ausgedehnt. Ich versuche, die Situation so zu nehmen wie sie ist,
und es gelingt uns, doch noch einige schöne, fast harmonische Urlaubstage
miteinander zu verbringen. Auch die fehlende Strecke von Marcilhac-sur-Célé bis
Cahors hole ich in vier Spaziergängen nach; einen davon, den zwischen Bouzies
und Vers, sogar mit Rita gemeinsam.
Dabei habe ich das Gefühl, daß ich
nicht mehr laufen kann. Die Spannung und der Wille sind mir abhanden gekommen.
Zwar sind meine Nierenschmerzen, dank der guten Pflege von Marianne, weitgehend
abgeklungen, dafür habe ich jetzt eine schwere Bronchitis. Ich huste wie der
Hund des Todes bellt. Auch mein Schlaf ist unruhig. Einmal träume ich, daß ich
nicht laufen kann, ich kann meine gelähmten Beine nicht mehr bewegen. Ein
anderes Mal habe ich den Traum, daß ich mit Rita im Zug sitze; wir sind
unterwegs nach Kassel. Ich mußte doch mitfahren, weil sie einen
überdimensionalen Reisekoffer hat, den sie allein nicht tragen kann. Als wir
umsteigen wollen, merke ich, daß auch ich diese schwere Last nicht bewegen
kann.
Nach solchen Träumen wache ich auf, das
Bett ist schweißgetränkt und ich habe Angst, daß meine Träume Realität werden
könnten. Nachzutragen wäre noch die Fortsetzung der Geschichte meines Messers,
das ich in Aumont-Aubrac in dem Gemeindehaus vergessen hatte. Nachdem ich in
Cahors eine Woche vergebens darauf gewartet habe, daß ein Pilger mir dieses
Messer, wie abgekündigt, nachbringt, habe ich den Herrn Pfarrer dort anrufen
lassen und von ihm die Auskunft erhalten, daß er zwei Tage nach meinem dortigen
Besuch das Messer einem Pilger ausgehändigt hat, der es in Cahors abgeben
wollte. Warum ich es nicht erhalten habe, konnte er mir auch nicht erklären.
Vielleicht war der „ehrliche Pilger“ doch nicht so ehrlich?
Donnerstag, am 22. Mai
Von Cahors nach Lascabanes
Am Morgen, in aller Frühe, bringe ich Rita zum Zug. Ich winke ihr nach und könnte
dabei heulen. Bis hierher ist sie, wenn auch physisch nicht anwesend, ständig
mit mir gewesen, mit mir gewandert, hat mich ermutigt und mir beigestanden.
Wenn sie mich gebeten hätte, ja, wenn sie mir nur erlaubt hätte, ihr bei ihren
Sorgen um ihren Vater, wie auch immer, behilflich zu sein, würde ich ohne
Zweifel mit allen Konsequenzen zu ihr stehen. Sie ist aber so verwirrend
distanziert, so korrekt, so quälend fremd! Über unser früheres Vorhaben, nach
dem Rita am Ende meiner Pilgerreise die letzten zweihundert Kilometer vor
Santiago mit mir wandern sollte, haben wir hier nicht mal gesprochen. Ich kann
nur hoffen, daß sich alle realen oder befürchteten Unstimmigkeiten zwischen uns
nach Genesung meines Schwiegervaters und nach meiner Rückkehr lösen lassen
werden.
Ich verabschiede mich von Marianne und
Michel und danke ihnen für all die Hilfe und Freundlichkeit, mit der sie uns
aufgenommen haben. Anschließend besuche ich die Kathedrale zum letzten
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