Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
dafür aber
außergewöhnlich schönen Kapitellen. Auch die an der Flußseite des Abteibezirks
übriggebliebene dicke Mauer zeugt von dem ehemals schützenswerten Reichtum des
Klosters.
Die Herberge befindet sich in diesem
uralten Kirchenkomplex; eine besser geeignete Aufnahme als Jakobspilger könnte
ich mir nicht vorstellen.
Ich bin sowieso froh, angekommen zu
sein. Die Nierenschmerzen haben mich den ganzen Tag lang geplagt, ich fühle
mich schwach und kränklich. Merkwürdig: In meinen Vorstellungen ist Cahors
immer ein ersehntes Zwischenziel gewesen, wo ich dank meiner dort ansäßigen
Freunde eine Erlösung von meiner Einsamkeit und vielleicht ein wenig Vorschuß
auf meinen späteren „Siegeslorbeer“ zu erhalten hoffte. Es war ja geplant, daß
Rita mich hinter Cahors zwei-drei Wochen auf dem Weg begleitet. Sie hat
allerdings neulich am Telefon schon angedeutet, daß sie statt der Mühsal der
Pilgerei eher etwas der Ruhe und Erholung bedürfe. Ob ich jetzt krank werde,
damit ich ihrem Wunsch nach Ruhe nachkommen kann?
Samstag, am 10. Mai
Von Marcilhac-sur-Célé nach Cahors
Meine Schmerzen lassen
sich nicht mehr ignorieren, ja kaum noch ertragen. Das Aufstehen fällt mir
schwer und wenn ich mich hinstelle, kann ich mein Kreuz nicht nach vorne
durchdrücken, wodurch ich die Haltung eines gebückten Greises annehme.
An Weiterlaufen brauche ich nicht mal
zu denken. Ich muß mich entweder hier auskurieren, oder nach Cahors fahren,
mich dort von meinen Freunden gesundpflegen zu lassen. Fahren will ich
grundsätzlich nicht mehr. Hier habe ich aber weder ein warmes Zimmer noch
Medikamente. Andererseits, von hier wegzukommen ist auch nicht einfach: Das
Célétal, diese große Fremdenverkehrsattraktion von Quercy, ist an das
öffentliche Verkehrsnetz nicht angeschlossen. Meine Entscheidung wird
schließlich dadurch erleichtert, daß zwei Wanderer, die in der Herberge
übernachtet haben und aus Zeitgründen ihren Urlaub hier beenden, eine
Fahrgelegenheit nach Cajarc organisieren; von dort fahrt ein Bus nach Cahors.
„Wollen Sie mit?“ Mit schwerem Herzen sage ich ja, und anstelle von zwei Tagen
bin ich in zwei Stunden in Cahors.
Meine Freunde, Marianne und Michel
begrüßen mich sehr herzlich, sie haben mich schon erwartet. Sie stellen mir in
ihrem Haus in der Altstadt eine separate Wohnung zur Verfügung. Auch einen
Wagen bekomme ich für die Tage, die ich in Cahors verbringen werde.
Gehirnwäsche ist ein langsamer Prozeß im Vergleich mit dieser raschen Änderung
meiner Gesamtsituation.
Jetzt liege ich in der Badewanne, die Wärme
mindert meine Schmelzen. Obwohl ich sicher bin, daß mein Entschluß, die Reise
zu unterbrechen, notwendig und vernünftig gewesen ist, bin ich mit dieser
Entscheidung nicht glücklich. Die Unterbrechung empfinde ich als Verrat an der
Sache und an mir selbst.
Rita kommt erst in drei Tagen; es hätte
zeitlich alles so gut gepaßt... Ich trinke Unmengen von Nierentee und verbringe
den Rest des Tages schlafend im Bett.
Michel und Marianne arbeiten von früh
bis spät: Sommer ist die Hauptsaison in ihrem Uhrengeschäft. So finden wir erst
in den späten Abendstunden Zeit für ein erstes Gespräch.
Marianne fragt nach meiner Motivation,
die mich auf den Weg brachte und mich auf diesem Weg hält. Sie fragt mich, und
sich selbst, was wir für uns tun, und was, vielleicht unbewußt, für andere
Menschen. Welche Motivation treibt uns zu außergewöhnlichen Taten? Ist es
vielleicht die erhoffte Anerkennung unserer Mitmenschen?
Eine schwere Frage. Anerkennung könnte
ich höchstens für die sportliche Leistung bekommen, die ich als etwas
Unwesentliches betrachte. Es ist schwierig wenn nicht unmöglich, auch nur einen
Bruchteil des eigentlich Erlebten an andere vermitteln zu können. Über die
Komplexität der Erlebnisse kann ich selbst nur staunen und stottern. Sicher
wird die Lust durch Lob erhöht, aber das würde allein nicht ausreichen, so viel
Zeit und Mühe in eine Idee zu investieren.
Wenn es mir darum gehen würde, durch
langes Laufen viel Anerkennung zu bekommen, dann hätte ich meine Reise schon in
Ulm beenden können. Ich kenne keinen Menschen, der eine noch längere Strecke
als die von Kassel nach Ulm gelaufen ist. Nein, darum kann es nicht gehen.
Ich habe mir eine Aufgabe gestellt, die
in der Zwischenzeit gewachsen ist und sich verselbstständigt hat. Ich möchte
diese Aufgabe erfüllen. Die Rückenstärkung von Rita und von meinen Freunden ist
mir sehr willkommen,
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