Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Ste-Eulalie, die
als mittelalterliche Idylle vom anderen Flußufer herübergrüßt, führt ein enger
Fußpfad am Steilufer entlang. Der Wald ist feucht und dunkel, der steinige
Wegrand mit Moos und Farn üppig bewachsen. Etwas weiter wird der Pfad breiter,
noch ein kurzer Wirtschaftsweg und ich bin am Ziel.
Espagnac ist kein Dorf: Nur wenige
Häuser versammeln sich um die malerischen Reste eines ehemaligen befestigten
Klosters. Die Herberge ist klein und einfach, gerade mal für sieben Personen
eingerichtet. Betreut wird sie von Madame Salah, einer gesprächigen runden
Frau, die mich sehr herzlich empfängt. Außer mir sind nur zwei französische
Ehepaare da, die in den nächsten Tagen die Umgebung erwandern wollen.
Eine der Frauen spricht perfekt
deutsch. Sie fragt mich nach meinen Erlebnissen. Unter anderem erzähle ich über
die Schwierigkeiten auf dem Weg in Ostfrankreich, eine Unterkunft zu finden.
Sie wird schnippisch und sagt:
„Sie sind selbst schuld! Wenn Sie
besser französisch sprechen würden, hätten Sie keine Schwierigkeiten gehabt!“
Ob sie damals in Seyssel ein Zimmer
gefunden hätte, nur weil sie Rimbaud im Original lesen kann? Ich bezweifle es.
Freitag, am 9. Mai
Von Espagnac nach Marcilhac-sur-Célé
Mir tun die Nierenweh. Wahrscheinlich habe ich mich erkältet, was in dem kühlen und regnerischen
Wetter der vergangenen Tage nicht verwunderlich wäre. Auch der neue Morgen
grüßt mit grauem regenwolkenverhangenem Himmel. Es nieselt.
Ich lasse den Tag langsam angehen. Die
nächste Herberge ist nur sechzehn Kilometer weit, ich habe es nicht eilig. Ich
mache vom Angebot der Madame Salah Gebrauch, unter ihrer fachkundigen Führung
die Kirche zu besichtigen.
Die spätgotische Kirche befindet sich
in einem bedauernswerten Zustand. Mir wird traurig ums Herz angesichts des
allgegenwärtigen Zerfalls, der nicht mal den Barockaltar, ein in Frankreich
seltenes Kunstwerk, verschont. Sogar die gotischen Grabmäler in ihren
Wandnischen verrotten: Durch Mauerrisse, durch die ich ins Freie gucken kann,
fließt Regenwasser auf die Grabsteine.
Mein Schmerz läßt etwas nach, ich kann
mich auf den Weg machen. Ich bleibe auf der Landstraße, die alle Windungen des
romantischen Flusses getreulich begleitet. Im Sommer wälzen sich hier wahre
Blechlawinen voller Touristen; jetzt habe ich die Chaussee für mich allein. Die
schmale Talsohle wird immer mehr von steil aufragenden Kalkfelsen begrenzt. Die
zahlreichen Grotten, die das Regenwasser in Jahrmillionen aus dem Gestein
herausgewaschen hat, haben schon in der Steinzeit Menschen angelockt, die in
Form von archäologischen Funden wie Werkzeugen und Höhlenmalereien hier ihre
Spuren hinterlassen haben. Eine wahrhaft historische Gegend!
Vorbei an Brengues komme ich nach
St-Sulpice. Die kleine Siedlung hat manche romantische Ecke, steile,
blumengeschmückte Gassen und eine einfache Dorfkirche. Mehrere Schwalbenfamilien
haben sich in dem Innenraum angesiedelt. Ich finde es lieb, daß die hiesigen
gläubigen Menschen bereit sind, ihren geweihten Raum mit den zwitschernden
Geschöpfen Gottes zu teilen. Die grazilen Vögel fühlen sich hier heimisch und
lassen sich von fremden Pilgern nicht aus dem täglichen Lebensrhythmus bringen.
Als ich die Kirche verlasse, kommen mir einige heimkehrende Schwalben in der
schmalen Türöffnung wie gefiederte Blitze entgegen geflogen. Dabei ist der
Abstand zwischen diesen lebendigen Meteoriten und meinem Kopf höchstens zwanzig
Zentimeter.
Heftige Regengüsse mit sonnigen Phasen
begleiten meinen Weg nach Marcilhac-sur-Célé. Wie die Küken um die Henne,
gruppieren sich die Häuser des Ortes um die ehemalige Benediktinerabtei, die im
Mittelalter als eine der mächtigsten der Umgebung galt. Gegründet im 9.
Jahrhundert, besaß sie bald über hundert Lehngüter, unter anderem den berühmten
Wallfahrtsort Rocamadour.
Die vorhandenen Reste des Klosters
lassen die alte Herrlichkeit heute nur noch ahnen. Von der romanische
Abteikirche aus dem 12. Jahrhundert sind nur die Außenwände, als Ruine,
übriggeblieben. Über dem ehemaligen Südportal sind Reste eines karolingischen
Giebelfeldes erhalten: Der zwischen zwei Engeln thronende Erlöser, sowie zwei
Apostel. In dem nicht wieder aufgebauten Rest der Kirche hat man dreihundert
Jahre später den heutigen gotischen Kirchenbau errichtet. Die guterhaltene
gotische Ausstattung ist sehenswert.
Hinter der Kirche sind Reste des
romanischen Kreuzganges zu sehen, mit einigen wenigen
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