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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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wieso werden mir, ausgerechnet
mir, die Taten dieser Barbaren indirekt vorgehalten? Erstens bin ich damals
gerade sechs Jahre alt gewesen, und zweitens lebte ich noch gar nicht in
Deutschland.
    Ich erlebe diese Situation nicht zum
ersten Mal. Auf meinen Urlaubsreisen ist es mir immer wieder passiert, daß ich
als „Deutscher“ mit der deutschen Vergangenheit konfrontiert werde. Es wäre mir
leicht, das Thema abzublocken, indem ich sage, daß ich zwar in Deutschland
wohne, aber eigentlich Ungar bin. So einfach ist die Sache aber nicht. Ich bin
stolz und glücklich, ein Mensch zu sein. Ich fühle mich als Erschaffer und
Inhaber aller Herrlichkeit, die Menschen in Jahrtausenden erdacht, entdeckt,
geschrieben, gesungen, gemalt und gebaut haben. Ich fände es unrichtig, wenn
ich bei der Verantwortlichkeit für all das Grauen und die Barbarei, die
dieselbe Spezies verursacht hat, mich als Unbeteiligter verstecken würde.
    Immer wieder ist zu beobachten, daß für
die großen Leiden, die Menschen andern Menschen antun, später niemand
verantwortlich ist.
    Die Opfer, deren Leben und Glück
zerstört wurde, finden nachher kaum jemanden, der auch nur bereit ist, ihre
Klagen anzuhören.
    Ich denke, auch wenn ich keine
Möglichkeiten habe, altes Unrecht wieder gut zu machen, habe ich die Pflicht,
das Schicksal dieser Menschen anzuhören und meine eigene Betroffenheit
zuzulassen.
    Ich umrunde einen ausgedehnten See, der
auf der Karte nicht eingezeichnet ist. Das Ufer am stillen Wasser ist friedlich
und einsam, nur ein geduldiger Angler versucht sein Glück. Ich habe vielleicht
noch eine Stunde zu laufen: Es ist Zeit für die Mittagspause.
    Ich finde einen außerordentlich schönen
schattigen Platz auf der Uferwiese. Es ist ein Platz zum Ruhen, Schauen,
Träumen. Hinter der Fassade der Stille zeigt die Natur das pralle Leben. Vor
mir schwimmen einige Wildenten in vorsichtigem Abstand zu mir. Sie sind längst
nicht so zutraulich wie ihre Artgenossen im Stadtpark. Kleine Fische springen
immer wieder, vom Hecht gejagt, auf die Oberfläche. Weiter hinten, am anderen
Ufer, sind die hohen Pappeln von Reihern bewohnt. Die heimkommenden Vögel
werden von den Nesthockern wie Partygäste mit großem Hallo begrüßt.
    Nur einige Bäume weiter nisten in den
Wipfeln Rabenvögel. Auf sie hat es ein hoch über diesen Bäumen fliegender
Habicht abgesehen. Er zieht seine ruhigen Kreise, so als ob die Dinge da unten
ihn gar nicht interessieren würden, doch plötzlich stürzt er sich wie ein Stein
herunter. Aber nicht schnell genug: Zwei der Raben springen ihm entgegen und
wehren den Angriff ab. Sie sind kleiner, aber wendiger und zu zweit, so muß der
Aggressor den Rückzug antreten. Er gibt aber noch lange nicht auf: Nach einigen
ruhigen Flugübungen probiert er es noch einmal, und noch einmal, und noch
einmal...
    Ich bin eingeschlafen. Als ich wieder
aufwache, ist es sehr heiß; ein Glück, daß ich nicht mehr viel zu laufen
brauche.
    Die Weizenfelder werden allmählich von
Obst- und Weinfeldern abgelöst. Aus der Traube, die hier wächst, wird der
berühmte Armagnac hergestellt. Der aus den weißen Sorten destillierte und in Eichenfässern
gelagerte Weinbrand wird bei uns in die Fürstengalerie der edlen Getränke zu
unrecht hinter dem Cognac eingereiht. Nur etwa zehn Prozent der Ernte wird exportiert, den großen Rest
trinken die Franzosen selbst. Sie wissen, warum. Ehrfürchtig marschiere ich an
den gut gepflegten Rebstöcken vorbei.
    Die gut eingerichtete Herberge ist in
einem Gymnasium untergebracht. Nachdem ich mich vom Staub und Schweiß befreit
habe, mache ich in der Stadt eine Besichtigungsrunde.
    Das Zentrum der Stadt bildet die
spätgotische Cathédrale St-Pierre. Der Bau ist in den Religionskriegen nur mit
knapper Not der Zerstörung entgangen: Die Hugenotten haben das gut
proportionierte Bauwerk nur gegen die Zahlung eines horrenden Lösegeldes
stehengelassen. Um so sichtbarer sind die Spuren, die die spätere Revolution an
den gotischen Verzierungen hinterlassen hat. An dem ehemals prachtvollen Südportal
sind die unteren Nischen leer, die unteren Figuren konnte man am leichtesten
zerschlagen. Den Figuren darüber hat man die Köpfe oder Gesichter zerstört. Die
obersten Statuen, die nur mit einer langen Leiter zu erreichen waren, hat man
heil gelassen: Die diesmal löbliche Faulheit hat sie gerettet.
    Abends ziehen vom Westen her dunkle
Wolken über die Stadt. Die Stille der Vorgewitterstimmung wird von wild
herumfliegenden

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