Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Schwalben kontrastiert.
Freitag, am 30. Mai
Von Condom nach Seviac
Ich kann es mir kaum vorstellen, daß die Franzosen anatomisch anders gebaut sind als wir.
Auch hier müßte es sich herumgesprochen haben, daß halbwegs feste Matratzen
besser zum Liegen geeignet sind als die hier bevorzugten schlappen Hängematten.
Warum sind dann auch die neuwertigen Betten, wie in dieser Herberge, so weich
gebaut, als ob Generationen von Trampolinspringern sie als Übungsgerät benutzt
hätten? Bis ich in einem solchen Möbelstück die Stellung finde, die mir das
Schlafen ermöglicht, dämmert schon der Morgen.
Der angekündigte Regen ist
ausgeblieben, aber das Wetter ändert sich. Der Himmel ist mit Zirruswolken
bedeckt und die Schwalben sind schon am frühen Morgen außergewöhnlich lebhaft.
Die letzten Sonnenblumenfelder und Obstplantagen
habe ich hinter mir gelassen. Hier gibt es nur noch Reben. Die Bauern nutzen
die Zeit, sie sind bei der Arbeit. Der Trinkgenuß ist das Ergebnis von viel
Arbeit und viel Chemie. Die Weinbauern versprühen Unmengen von dem stinkenden
Gift. Dabei tragen sie nur einen einfachen Anorak mit Kapuze, dazu einen
einfachen Mundschutz. Ob das genügt?
Ich überquere das kleine trübe Flüßchen
Artigues auf der fünfbögigen römischen Steinbrücke. Etwas weiter dahinter steht
auf einem mit Wein bewachsenen Hügel die kleine romanische Friedhofskapelle des
Weilers Routgès, die eine kuriose Besonderheit aufweist. Neben dem nach Westen
gerichteten Eingang hat die Kirche noch eine zweite kleinere, nach Süden
gerichtete Tür. Andersgläubige und Leprakranke durften die Kirche nur durch
diese kleinere Öffnung betreten.
Ich setze mich auf die Steintreppe.
Kein Mensch ist zu sehen, die ganze weite friedliche sonnendurchflutete
Landschaft habe ich für mich allein. Gott schaut auf mich herunter und ich
schaue zu ihm hoch und frage ihn, wie die Menschen es immer wieder
fertigbringen, zwischen dem richtigen und dem falschen Glauben zu
unterscheiden. Auch heute noch. Nur er kann es wissen.
Jenseits des Flusses Auzoue steigt die
Straße zum kleinen Ort Séviac, wo ich heute schlafen möchte. Vor dem Ort
passiere ich die römischgallische Ausgrabungsstätte. Das Ausstellungsgelände
ist umzäunt, die Eingangstür ist offen, das Kassenhäuschen leer. Neben dem
Eingang ist ein Geldkästchen, wo die ehrlichen Besucher das Eintrittsgeld
einwerfen können. Ein anderes Schild zeigt an, daß auch die Herberge sich hier
befinden soll. Ich trete also ein und suche die Unterkunft, finde sie aber
nicht. Nur das Bauernhaus am hinteren Grundstücksende könnte es sein, aber da
steht „privé“ und auf
mein Klopfen meldet sich niemand.
Ich schaue die Ruinen an. Außer den
vielen Grundmauern sind einige schöne Mosaiken mit Trauben und Früchten zu
sehen. Der Weinbau hat hier eine fast zweitausendjährige Tradition.
Noch immer ist niemand zu sehen. Ich
lege mich vor dem Eingang ins Gras und döse über zwei Stunden, bis die
zuständige Dame erscheint. Ja, sagt sie, hier sei ich schon richtig. Die
Herberge ist hinten im Bauernhaus, dort, wo „privé“ steht; die Tür ist offen.
So schlafe ich heute in einem Museum.
Vor dem Fenster des Schlafraumes ist eine Schaugrube, die Mosaiken darin setzen
sich unter dem Haus, praktisch unter meinem Bett, fort. Ein eigenartiges
Gefühl!
Später kommen Palma, Nadine und André
an, müde aber gut gelaunt. Kurz danach, schon im Dunkeln, treffen noch zwei
Pilgerinnen ein, zwei junge Französinnen, etwas zu laut und distanzlos, quasi
„Hier sind wir! Wer seid ihr?“ Ich finde ihre geräuschvolle Aufdringlichkeit
überzogen und ziehe mich früh zurück.
Samstag, am 31. Mai
Von Seviac nach Eauze
Ich habe mich gestern wohl geirrt: Die beiden Frauen, Bernadette und Michele, sind zwar
laut, aber recht nett. Ich sollte mich nicht von dem ersten Eindruck leiten
lassen.
Die Strecke heute ist relativ kurz und
einfach: Nach einer halben Stunde erreichen wir die Trasse einer ehemaligen
Bahnlinie, der wir bis zu unserem Tagesziel folgen. Die Morgenluft ist mild und
seidig, ich würde, wenn ich allein wäre, vor Freude laut juchzen.
Der Fußpfad am Bahndamm ist einer von
zwei parallelen Wegen und wird offensichtlich weniger benutzt als die andere
Variante. Meterhohes Gras und Brennesseln sowie umgefallene Büsche und Bäume
erschweren das Vorankommen. Die Gräser sind reif, die von uns aufgewirbelten
Pollen qualmen im hellen Morgenlicht wie weißer Rauch. Bernadette ist
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