Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
zu denken! Sogar in der von der Straßenseite
abgewandten Küche ist der Geräuschpegel noch so groß, daß wir uns, wieder
aufgestanden, kaum unterhalten können. So verbringen wir die Nacht mit
Kaffeetrinken, Lesen, Dösen. Ich überlege noch, ob ich nachts weiterlaufen
soll, aber das Wetter erlaubt es nicht.
Neben dem Ärger, nicht schlafen zu
können, finde ich diesen surrealistischen Irrsinn auch faszinierend. Ich schaue
immer wieder aus dem Fenster, aber die Szene ändert sich kaum. Auch später, in
der tiefsten Nacht, sind es höchstens ein Dutzend vollgedröhnte junge Männer,
die auf dem leeren Platz vor diesem Lastwagen im strömenden Regen die
knöcheltiefen Pfützen zum Schwappen bringen, indem sie völlig abgedreht im
Wasser herumhüpfen. Fellini hätte die Regie führen können.
Sonntag, am 1. Juni
Von Eauze nach Nogaro
Der Mai ist vorbei, es ist schon Juni. Ist es überhaupt möglich, daß ich seit Februar
unterwegs bin?
Als Letzter verlasse ich die Herberge.
Noch immer regnet es, die Luft ist wesentlich kühler als gestern. Der Platz ist
verlassen, nur ein betrunkener Mann schläft auf einer Holzbank unter den
Arkaden. Alles ist still und ruhig.
Komisch: Ein großer braun gefleckter Hund
sitzt vor der Tür und schaut mich mit seinen freundlichen Hundeaugen an. Er
wedelt begeistert mit dem Schwanz und ist sichtlich erfreut, mich zu sehen.
Erst denke ich, es muß ein Irrtum sein, er verwechselt mich mit jemandem. Aber
es ist niemand da, dem die Begrüßung gelten könnte. Er meint zweifelsohne mich!
„Lieber Freund“, denke ich, „bei mir
ist nichts zu holen. Ich bin nicht als Hundeliebhaber bekannt und es soll dabei
bleiben“. Ich ignoriere die Annäherungsversuche. Ein kurzer Blick auf die Karte
und ich beginne zu laufen.
Aber was ist los? Der Hund ignoriert
mein Distanzbedürfnis und läuft mit mir oder, besser gesagt, ich laufe mit dem
Hund! Er zeigt mir den Weg, indem er an der Straßenecke, wo ich abbiegen muß,
auf mich wartet und erst beruhigt weiter läuft, als er sieht, daß ich ihm
folge. Wenn ich auf die Karte gucke, kommt er einige Schritte zurück, als ob er
sagen würde: „Hab’ Vertrauen! Ich kenne den Weg, folge mir!“ Die Sache wird mir
langsam unheimlich!
Wir verlassen die Stadt. Bald biegt ein
Feldweg von der Landstraße nach rechts ab, und ich wundere mich nicht mehr, daß
auch der Hund vor mir auf diesen Weg einbiegt. Oft bleibt er stehen und schaut,
ob ich komme, setzt nach Hundeart seinen Duftmarken an Bäume und Steine und ist
sichtlich vergnügt.
Bei Pénabert hole ich meine
Pilgergeschwister ein. Der Pfad ist vom Regen aufgeweicht, ohne Stöcke kommen
sie im Schlamm langsamer voran als ich. Der Hund begrüßt auch sie sehr
freundlich und läuft weiter vor uns.
Wir kommen zu einem Waldrand, wo unser
Pfad einen schmalen Fahrweg kreuzt. Dort steht ein Auto, ein Mann steht
daneben. Er öffnet die Hintertür und der Hund springt in den Wagen. Wir wundern
uns, worauf der Herr erzählt, daß sein Hund ein leidenschaftlicher Begleiter
der Pilger ist, und das schon seit Jahren. Er wartet morgens vor der Herberge,
bis die Pilger herauskommen, und er begleitet sie bis zu dieser Kreuzung. Hier
wartet er, bis er von seinem Herrchen abgeholt wird.
Wir überqueren eine breite Senke mit
großen Fischteichen und erreichen das Dorf Manciet. Am Dorfrand ist ein
kreisrunder Bau, der erste Stierkampfplatz, den ich unterwegs antreffe. Spanien
kommt immer näher!
Im Dorfzentrum ist das Lokal offen,
eine gute Gelegenheit, uns ein wenig zu trocknen und zu wärmen. Die Kneipe ist
gut besucht, ausschließlich Männer, die den Sonntagvormittag hier mit
Kartenspiel verbringen. Es ist laut und vollgequalmt, aber trocken und warm.
Die durchwachte Nacht zeigt ihre Wirkung: Ich schlafe auf dem Stuhl sitzend
ein.
Ab hier führt eine schnurgerade
Asphaltstraße nach Nogaro, wo wir schlafen wollen. Zwei Stunden eintöniger
Asphalt im Regen. Auffallend viele Motorradfahrer sind unterwegs, was,
angesichts des Wetters, uns etwas verwundert.
Je näher wir an die Stadt herankommen,
um so stärker können wir ein fernes lautes Geräusch vernehmen, für das wir
keine Erklärung finden. Des Rätsels Lösung findet sich, als wir am Ortseingang
die Schilder erblicken, die ein großes Motorrad-Wochenende hier, in Nogaro,
ankündigen: Das Geräusch, das wir hören, ist das Heulen von tausend Motoren!
Neben der Motorrad-Rennbahn — Nogaro
ist ein Zentrum des Motor-Rennsports — sind ausgedehnte
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