Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
27. Mai
Von Biran nach Lectoure
Vor dem Haus ist ein kleinerTümpel, in dem mehr Frösche zu finden sind als Wasser. Die
Tiere veranstalten in der Nacht ein Konzert, bei dem ich überlegte, ob sie für
ihren Gesang vielleicht einen Verstärker hatten. Schlafen konnte ich jedenfalls
kaum. Wenn sie wenigstens über die Mückenplage Herr geworden wären. Aber nicht
einmal das! Quaken und Mücken zu fangen gleichzeitig, das geht nicht!
Um sieben, als ich mich verabschiede,
ist es schon so heiß, daß ich das dünne T-Shirts als zu warm empfinde. Dies
kann mich aber nicht daran hindern, möglichst schnell das nächste Dorf zu
erreichen: Ich habe Hunger.
Eine Stunde später erreiche ich
Miradoux, eine kleine bastide am Rande des Jakobsweges. Der Ritterorden der
Johanniter betrieb damals hier ein Krankenhaus. Von der alten Herrlichkeit ist
nicht viel übriggeblieben, nur eine mehrmals umgebaute gotische Kirche und
einige alte Gebäude. Wesentlich bedeutender ist für mich aber die Tatsache, daß
ich am Kirchplatz einen Supermarkt finde, wo ich endlich Proviant kaufen kann.
Auch Tische und Bänke stehen im Kirchgarten für die Pilger bereit. Ich bin
gerettet!
Hinter dem Gutshof Safrané passiere ich
ein schon verblühtes Rapsfeld. Die Stängel der zwei Meter hohen Pflanzen sind
über drei Zentimeter dick, die Riesenschoten lassen die Zweige wie bei einem
Weidenbaum, herunterhängen. Mir ist das alles etwas unheimlich, wie die
Riesenameisen in dem alten Horrorfilm „Furmicula“. Am Rain sind Schilder von
einem Agrarkonzern zu sehen. Ob es schon genmanipulierte Pflanzen sind?
Weiter auf der einsamen schattenlosen
Landstraße. Mittlererweile ist es so heiß, wie ich es nur aus südlichen
Urlaubsländern kenne. Dort allerdings habe ich bei solchem Wetter alle
anstrengenden Tätigkeiten gemieden. Ich staune über mich!
Ich komme auf die stark befahrene
Nationalstraße N 21. Nicht einmal begehbare Fahrbahnbankette sind vorhanden:
Die Lastzüge rasen beängstigend nah an mir vorbei. Andererseits bringt ihr
Fahrtwind willkommene Kühle.
Die am Flußübergang der Gers liegende
Stadt Lectoure ist eine gallo-römische Gründung. Als ehemalige reiche
Bischofsstadt war sie auch für die Jakobspilger des Mittelalters von großer
Bedeutung. Neben mehreren Herbergen gab es hier auch ein von Benediktinern
betreutes Krankenhaus für leprakranke Pilger. Das Stadtbild wird heute von dem
mächtigen quadratischen Turm der Kathedrale beherrscht.
Die saubere Herberge mit ihrer guten
Ausstattung liegt nur hundert Meter vom Zentrum entfernt. Hier treffe ich
Nadine, André und auch die hinkende Palma. Ihr Fuß ärgert sie nach wie vor,
aber sie hat die Ruhe in Moissac nicht ausgehalten. Wir sind die einzigen
Gäste, jeder kann sich ein eigenes Zimmer, wenn nicht ein eigenes Geschoß
aussuchen.
Die große Bischofskirche St-Gervais
wurde an der Stelle eines römischen Tempels erbaut. Trotz mehrmaligen Umbaus
ist die Raumwirkung erhaben sakral. Von der Hitze und Hektik, die auf dem Platz
vor der Tür herrschen, merkt man hier nichts: Wohltuende Kühle und Stille
bieten den würdigen Rahmen für ein meditatives Gebet. Ein müdes Glücksgefühl
hält mich lange auf der Sitzbank fest. Es geht ja gut voran, alles auf seinem
Weg. Ich weiß nicht, was der Morgen bringt, aber nach all den Tagen habe ich
die Hoffnung, nein, die Gewißheit, daß sich alles richtet und seine Ordnung finden
wird.
Mittwoch, am 28. Mai
Von Lectoure nach la Romieu
Die Landschaft ändert sich: An die Stelle der weiten Ackerfelder sind Obstplantagen
getreten, hauptsächlich Pflaumenbäume. Am Rand der Flurstücke sind urtümliche
Verladegeräte zu sehen, kranartige Konstruktionen aus rostigem Stahl, mit denen
die Obstkisten auf die Transportfahrzeuge aufgeladen werden. Die
grasbewachsenen einsamen Feldwege verlaufen abseits der Hektik der Straßen. Das
Dorf Marsolan ist mit seinen dreihundert Einwohnern die größte Siedlung weit
und breit. Eine große gotische Kirche in der Ortsmitte zeigt, daß der Ort schon
bessere Zeiten gesehen hat. Ich durchquere Marsolan ohne jemandem zu begegnen;
nicht mal von einem Hund werde ich angeknurrt.
Zwei Kilometer vor dem Tagesziel treffe
ich meine Mitpilger Palma, Nadine und André. Ein kleines Wäldchen bietet sich
an, wir machen eine ausgedehnte Mittagspause. Wie gewöhnlich, schlafe ich bald
ein. Als ich aufwache und aufstehen möchte, kann ich nicht. Ich habe in beiden
Oberschenkeln solche Krämpfe, daß ich mich beim Liegen
Weitere Kostenlose Bücher