Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
nicht mal vom Rücken auf
die Seite drehen kann. Die anderen beobachten mit Sorge, wie ich mich mit
schmerzverzerrtem Gesicht bemühe, den Krampf zu überwinden. André ist mir
behilflich, indem er meine Beine massiert. Danach kann ich wieder aufstehen und
laufen. Ich muß genauer darauf achten, daß ich regelmäßig Magnesiumtabletten
nehme. La Romieu überrascht mich schon von weitem. Über dem kleinen Dorf erhebt
sich eine solch riesige Kathedrale, daß ich mich fragen muß, welche
unvorstellbaren Massen von Pilgern damals hier durchgelaufen sein mögen, um
diesen Reichtum hierher zu tragen. Auch aus der Nähe betrachtet ist der kleine
Ort mehr als imposant. Reste der mit Stadttoren versehenen Befestigungsmauer,
ein wunderbarer gotischer Kreuzgang, viele stattliche alte Wohnhäuser, ein mit
Arkaden umgebener zentraler Platz und viele andere Einzelheiten ergeben das
Gesamtbild einer steingewordenen Vergangenheit.
Auf dem Platz ist ein merkwürdiges
Denkmal zu sehen: Die Büste einer jungen Frau mit Katzenohren. „Angéline“ steht darunter zu
lesen. Wer war diese Angéline?
Über sie wird folgende Legende erzählt:
Vor mehr als sechshundert Jahren lebte
hier ein Holzfäller mit seiner Frau und mit seinem Töchterchen, arm aber glücklich.
Der Glück währte nicht lange: Der Mann wurde bei der Arbeit vom Baum
erschlagen; kurz danach ist auch die Frau, aus lauter Kummer, gestorben. Das
kleine Mädchen, Angéline, wurde zwar von einer guten Nachbarin angenommen, aber
auch diese gute Frau konnte sie nicht über den Verlust der Eltern
hinwegtrösten. Linderung gegen ihren Schmerzen fand sie bei den zahlreichen
schmusigen Katzen des Dorfes, die oft mit ihr spielten und die sie fortan als
Freunde betrachtete.
Das Jahr 1342 wird in den Chroniken als
Jahr der Dürre und Not verzeichnet. Zwei Jahre hatte es nicht geregnet, die
Brunnen waren ausgetrocknet, die Saat verdorben. Die Bewohner des Dorfes hatten
nichts zu essen, und nachdem die ersten vor Hunger zu sterben drohten, fing man
an, die Katzen von den Dächern zu holen, um sie in den Kochtopf zu stecken. Für
Angéline war dies eine unvorstellbare Sünde, und so begann sie, die Tiere auf
den Dachböden zu verstecken. Es gelang ihr, unzähligen Katzen das Leben zu
retten.
Nach den Jahren der Dürre kam ein Jahr
des Segens: Die Ernte war reich wie lange nicht mehr! Die Kornspeicher waren
zum Bersten voll, und leider bald auch wieder fast leer: Da zuvor alle
freilaufenden Katzen aufgegessen worden waren, hatten sich die Mäuse und Ratten
so vermehrt, daß man zusehen konnte, wie sie das Korn wegfraßen. Doch bevor die
Verzweiflung überhand nehmen konnte, ließ Angéline ihre versteckten Katzen
wieder heraus und befreite das Dorf von der Plage. Sie wurde für den Rest ihres
langen Lebens von den Menschen hoch verehrt; weiterhin verbrachte sie ihre Zeit
mit den Katzen. Man erzählte sich, sie ginge nachts mit ihnen über den Dächern
spazieren und dabei träge sie Katzenohren.
Abends gehen wir in das einzige Eßlokal
des Ortes. Es ist eine Crêperie, dort gibt es nur Eierpfannkuchen zu essen.
Vorspeise: crêpe mit
Käse; Hauptspeise: crêpe mit Pilzen; Nachspeise: crêpe mit Konfitüre. Ich denke, man sollte es nicht übertreiben.
Donnerstag, am 29. Mai
Von la Romieu nach Condom
Der einsame Weg, ein schöner schattiger Fußpfad, hebt meine Stimmung, die nach einem
Telefongespräch, das ich eben mit meinem Schwiegervater kurz vor seiner
Herzoperation geführt habe, etwas getrübt gewesen ist.
Bald danach wird aber meine Stimmung
wieder gedämpft. Ich erreiche das schmucklose Dorf Castelnau-sur-l’Auvignon. Da
es sehr warm ist und ich meine Wasserflasche schon leergetrunken habe, suche
ich nach einer Wasserstelle. Ich finde am leeren Schulhof einen Wasserhahn, wo
eine alte Frau mir erlaubt, zu trinken und Wasser zu tanken. Sie fragt, wo ich
herkomme. Als sie hört, daß ich Deutscher bin, erzählt sie mir in
gleichbleibend freundlichem Ton, daß die Ortschaft im Krieg von einer deutschen
Kommandotruppe zerstört wurde, weil die Bewohner die Widerstandkämpfer
unterstützt hatten.
Die Nachricht trifft mich wie eine
Ohrfeige, auch wenn es von der Frau nicht so gemeint ist. Warum mußte so etwas
passieren und warum gerade hier? Hier ist doch alles so friedlich und
unauffällig! Was haben die Soldaten, die aus einem fernen fremden Land kamen,
in dem weder davor noch danach jemand von der Existenz oder Nichtexistenz
dieses Dorfes wußte, hier zu suchen gehabt? Und
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