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Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Titel: Vierter Stock Herbsthaus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Susami
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SCHEISSE!
    Mehrere Studenten drehen sich zu mir um, ein Mädchen mit roten Haaren und rosa Haut grinst mich an, ein Typ im hellblauen Polohemd zieht die Augenbrauen hoch. Ich habe es laut gesagt, dieses Wort, das ich als Kind nie sagen durfte. Zum Glück habe ich es mehr gezischt als geschrieen, der Prof redet einfach weiter, er hat mich nicht gehört … oder er ignoriert mich.
    Fünf Minuten später ist die Vorlesung zu Ende. Schnell packe ich meine Sachen zusammen und verlasse als erste den Saal. Keiner hat sich verwandelt, die Menschen sind Menschen geblieben. Auch auf den Gängen: Menschen, die das tun, was Menschen eben tun. Ein junger Mann mit langen Haaren bohrt ganz ungeniert in der Nase, eine Putzfrau putzt, eine junge Frau schiebt einen Kinderwagen und ein Student mit großen, fettig glänzenden Pickeln im Gesicht balanciert einen Stapel Bücher.
    Vorsichtshalber drehe ich mich nicht um. Vielleicht folgt mir ja eine Kolonne schwarzer Tiere. Hat nicht gerade dieser Acne vulgaris-Typ komisch geschaut und einen Schritt zur Seite gemacht? Ach Scheiße, jetzt nimm dich endlich zusammen! Hör auf, dir irgendeinen Mist einzubilden!
    Als ich drei Stunden später in der Straßenbahn sitze und zurück zum Herbsthaus fahre, da fühle ich mich seltsam müde, zugleich ängstlich und unruhig. Ich stehe völlig neben mir, rutsche auf dem dreckigen Plastiksitz hin und her, starre eine fremde Frau an und pule einen zähen, bräunlichen Belag von einem dieser Haltegriffe. Als mit bewusst wird, was ich da gerade ekelhaftes mache, da habe ich das Zeug schon unter den Nägeln und auf den Fingerkuppen. Was ist das? Halb getrockneter Rotz? Ich merke, dass mir schlecht wird. Mit der sauberen Hand ziehe ich eine Packung Taschentücher aus meinem Rucksack und wische das Zeug ab … so gut es eben geht.
    Auf dem Weg von der Haltestelle zu dem seltsamen Haus, auf das wir aufpassen müssen, in dem wir wohnen … und in dem vielleicht noch etwas ganz anderes haust, da achte ich darauf, mich nicht mit der Rotze-Hand zu berühren. Ich halte mir die Finger vom Leib wie eklige, beißende Insekten. Endlich oben in der Wohnung gehe ich direkt ins Bad und schrubbe mir die Hände rot. Während ich noch am Waschbecken stehe, da höre ich Geräusche. Es sind vertraute Geräusche, das Klappern einer Tastatur, Paula ist schon da. Warum hat sie nichts gesagt, als ich reingekommen bin? Ich verlasse das Bad, gehe ins Wohnzimmer und dann Richtung Balkon. Paula sitzt draußen, sie sitzt auf einem dieser alten Plastikstühle und hat ihren Laptop auf den Oberschenkeln. Als sie bemerkt, dass ich zu ihr komme, da klappt sie das Ding zu.
    „Hast du was zu verbergen?”
    Sie lächelt mich an und dieses Lächeln kommt mir ein wenig traurig vor.
    „Klar, was denkst du denn.”
    „Wie geht es dir?”, frage ich sie.
    „Geht so. Und dir?”
    „Ganz okay. Ich gehe morgen zu diesem Strauss. Habe heute Vormittag mit ihm telefoniert.”
    Paula hält mir ihre Hand hin. Ich nehme sie und sie fühlt sich kühl und weich und stark an.
    „Danke Schatz. Danke, dass du dir Hilfe holst.”
    Am liebsten würde ich ihr sagen, dass ich keine Hilfe brauche, dass ich mir nichts eingebildet habe, dass ich psychisch völlig in Ordnung bin. Aber mittlerweile bin ich mir selbst nicht mehr ganz sicher. Die Angstphantasien, die mich vorhin in diesem Hörsaal angesprungen haben, die haben mir zu denken gegeben. Diese verdammten Phantasien haben mich umzingelt und mir ein großes Stück meiner Sicherheit geraubt. Mein Verstand hatte keine Chance gegen diese Übermacht.
    „Klar … mal sehen, was der zu der Sache zu sagen hat. Ich gehe morgen um neun zu ihm.”
    Paula schaut mich nicht an. Sie sieht aus, als überlege sie, als ginge ihr etwas durch den Kopf, mit dem sie nichts Rechtes anzufangen weiß. Vielleicht will dieses Etwas ja hinaus und Paula weiß nicht, ob sie es hinauslassen soll.
    „Alles okay?”, frage ich.
    „Ja, alles okay. Machst du uns was zu essen? Dann würde ich auch die Runde durchs Haus übernehmen.”
    Ich stimme zu, mir ist nicht nach runden Fluren und Türen, hinter denen niemand mehr lebt. Mir ist auch nicht danach, alleine in unserer Wohnung zu bleiben … aber okay, ich bin kein kleines Mädchen, das sich vor Gespenstern fürchtet, ich habe mich im Griff. Und noch während ich mir denke, dass ich kein kleines Mädchen mehr bin, da weiß ich schon, dass mein Argument Mist ist. Kleine Kinder fürchten sich vor Gespenstern, auch wenn sie keine sehen.

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