Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Titel: Vierter Stock Herbsthaus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Susami
Vom Netzwerk:
nicht eingegangen, wohl aber das Geld von Herrn Strauss.
    Um 8.32 Uhr steige ich aus der Straßenbahn und nur vier Minuten später betrete ich den vier Jahrzehnte alten Zweckbau, in den Menschen zum Gesundwerden, zum Sterben und zum Arbeiten kommen. Gewohnheitsmäßig desinfiziere ich meine Hände an einem dieser bläulich-halbdurchsichtigen Automaten und um 8.38 Uhr stehe ich in einem der glänzenden Krankenhausaufzüge. Neben mir eine junge, sehr zierliche Schwester, die einen schweren Mann im Rollstuhl zu irgendeiner Untersuchung bringt … vielleicht bringt sie ihn auch zurück in sein Zimmer. Der Mann hat ein sonnenverbranntes, extrem zerfurchtes Gesicht und gewaltige nackte Füße, doppelt so groß wie gesunde Füße. Die Zehen sehen aus wie alte, nicht mehr genießbare Kartoffeln, aufgedunsen und trotzdem schrumpelig. Die völlig vom Pilz zerfressenen Nägel erinnern an die vertrockneten, bröseligen Käsereste, die man ab und zu im Kühlschrank findet. Tatsächlich erinnern mich die Zehennägel an ein altes, weißlich-gelbes Stück Parmesan, das ich vor einigen Tagen in einer roten Tupperdose entdeckte.
    Ich, die Schwester und der Patient mit den kaputten Füßen steigen in derselben Etage aus. „Nehmen Sie die Füße hoch, Herr Seibel. Nicht einschlafen, nehmen Sie jetzt bitte die Füße hoch”, sagt die junge Frau zu dem völlig erschöpften Mann. Er stöhnt, murmelt etwas Unverständliches und hält die Füße hoch, die Schwester schiebt ihn einige Meter und er nickt ein, der Kopf klappt nach vorne und die nackten Füße schleifen auf dem Boden. „Herr Seibel, nehmen Sie bitte die Füße hoch. Herr Seibel, nicht einschlafen! Wir sind gleich da!” Sie sagt es ihm direkt ins Ohr, der Mann wacht auf, schaut sich mit kleinen, wässrigen Augen um, nimmt die Füße hoch. Wieder schiebt ihn die Schwester einige Meter, wieder nickt er ein und die geschwollenen Füße schleifen auf dem Fliesenboden. Die Schwester stoppt und ich kann mich nicht mehr beherrschen.
    „Entschuldigen Sie”, sage ich zu der jungen Frau. „Sie sollten einen Patienten in so einem Zustand eigentlich nicht ohne Fußstützen fahren.”
    Sie schaut mich an, eher resigniert als genervt.
    „Ja, ich weiß.” Und dann wieder zu dem Mann im Rollstuhl: „Herr Seibel, nicht einschlafen! Nehmen Sie bitte die Füße hoch.”
    Der Mann hebt stöhnend die Füße und wieder geht es einige Meter voran. Es ist nicht zum Mitansehen.
    „Gerade wenn die Füße in solch einem Zustand sind, kann da schnell was passieren”, sage ich zu der Schwester. Sie bleibt stehen und wischt sich mit dem Ärmel die Stirn.
    „Was soll ich denn machen? Ich weiß selbst, dass das so nicht korrekt ist. Aber wir haben keine Stützen, die sind alle weg. Und er musste eben zu seiner Untersuchung, sonst bekommen wir Ärger. Sind Sie hier vom Haus?”
    „Ich studiere Medizin”, antworte ich. „Ich habe ein paar Wochen hier gearbeitet.”
    „Könnten Sie mir vielleicht kurz helfen?”
    Den Rest des Weges laufe ich in gebückter, schmerzhaft verdrehter Haltung neben dem Rollstuhl und halte die beschissen schweren, mit Flüssigkeit gefüllten Unterschenkel des Mannes hoch. Während ich dies tue, hoffe ich, dass ich mir nicht was einfange, eine Pilzinfektion oder, ja warum denn auch nicht, eine Ladung multiresistenter Krankenhauskeime. Als wir den Mann auf sein Zimmer gebracht und vor seinem Frühstückstablett geparkt haben, da laufe ich zum nächsten Desinfektionsmittelspender und schmiere mir mit dem Zeug, dessen Geruch ich eigentlich nicht mag, Hände und Unterarme ein. Ich warte, bis das Mittel getrocknet ist und wiederhole die Prozedur.
    Es ist 8.52 Uhr, ich stinke nach Desinfektionsmittel und überlege ernsthaft, ob ich wirklich im Gesundheitsbereich arbeiten will. Man bekommt so viel Scheiße mit. Noch könnte ich etwas anderes machen … zum Beispiel Grafikdesign. Ich habe doch früher immer gerne gezeichnet, ich hatte doch immer 'ne 1 in Kunst. Aber nein, was soll der Quatsch. Natürlich werde ich Ärztin. Ich musste ackern wie verrückt, um überhaupt einen Studienplatz zu bekommen.
    8.55 Uhr: Ich stehe auf dem Flur vor Dr. Strauss' Büro und mir ist heiß, ich schwitze unter den Armen. Was soll ich ihm erzählen? Was soll ich ihn fragen? Soll ich ihn fragen, ob ich verrückt bin? Ob ich besser einen Beruf lernen sollte, in dem ich keinen Schaden anrichten kann? Und soll ich ihn zur Rede stellen? Vielleicht hat Egners Sekretärin ja von einem ganz anderer

Weitere Kostenlose Bücher