Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Ich habe mich nie vor Gespenstern gefürchtet, bis ich dann eines sah. Ich habe im Gegensatz zu all den kleinen Kindern also Grund, mich … Halt! Stopp! Hör endlich auf damit! Jetzt ist Schluss! Hör auf, dir Gedanken zu machen. Mach lieber etwas, mach normale Sachen, die normale Leute eben so machen. Mach Bratkartoffeln!
Zehn Minuten später. Am Herd. Vor mir knistern Fett und Kartoffelscheiben in der schweren, gusseisernen Pfanne, die mir meine Eltern gekauft haben, als ich in meine erste eigene Wohnung zog. Paula hat sich Taschenlampe, Schlüsselbund, Stift und Protokollzettel geschnappt und müsste nun irgendwo auf einem der unteren Stockwerke sein. Genau wie ich fängt sie immer unten an. Ich hoffe nur, sie kommt nicht auf die Idee, mal wieder den Fahrstuhl zu benutzen. Ich habe echt keine Lust, Herrn Brandt zu rufen … oder gleich die Feuerwehr. Ich will nicht, dass dieses große rote Maul sie … Schluss jetzt! Wann verdammt hört das endlich auf?
Eine halbe Stunde später sitzen wir beim Essen: Bratkartoffeln, Spiegeleier und Salat. Nicht originell, nicht gesund … aber lecker. Paula ist nicht im Aufzug steckengeblieben, das samtene Maul hat sie nicht verschluckt. Es ist ihr auch kein großes schwarzes Tier begegnet. Ein wenig hatte ich ja gehofft (ganz verschämt gehofft), sie würde verängstigt und nach Luft schnappend wiederkommen: „Du hast Recht, Lena. Ich habe es auch gesehen. Als ich mich umgedreht habe, da stand es hinter mir, es hat mich angeschaut und da bin ich weggerannt. Es tut mir so leid, dass ich dir nicht geglaubt habe, lass uns von hier wegziehen, gleich heute noch. Vielleicht ist ja unsere alte Wohnung noch frei.”
Ja, ich weiß. Es ist gemein, jemandem so etwas zu wünschen. Aber zumindest würde sie mich dann nicht mehr für verrückt halten. Und ja, sie hält mich für verrückt. Ich konnte mir es nicht verkneifen, ihren Laptop aufzuklappen, während sie im Haus unterwegs war. Das Gerät war auf Standby und das Passwort kenne ich sowieso.
Als ich sah, was sie sich zuletzt angesehen hatte, da war mir, als würde ich einen Schlag in den Magen bekommen, während mir gleichzeitig jemand den Hals zudrückt.
Paula war unterwegs in einem Forum für Partner und Angehörige psychisch Kranker. Mit einer wilden Mischung aus Wut, Enttäuschung, Mitleid und Liebe sah ich die Diskussion, in der sie gelesen hatte: Wie gehe ich mit den Wahnvorstellungen meines Partners um? Ruckartig, mit viel mehr Kraft als nötig, als wäre ich gerade auf ein schmutziges, ekelhaftes Geheimnis gestoßen, klappte ich den Laptop zu. Zurück bei den Bratkartoffeln ging dann alles durcheinander. Ich hasste Paula dafür, dass sie mich als verrückt betrachtet, gleichzeitig hatte ich Mitleid mit ihr, dachte daran, dass sie sich Sorgen um mich macht. Ich spürte meine Liebe zu ihr und im nächsten Moment einen fast mordlüsternen Hass, der mich erschrocken das große Küchenmesser weglegen ließ.
Früher, als ich ein Mädchen mit langen Zöpfen und dünnen Beinen war, da gingen meine Eltern mit mir und meinem Bruder einmal im Jahr in einen großen Freizeitpark, dieser alljährliche Ausflug war so eine Art Familienritual. In diesem Freizeitpark gab es eine Pferderennbahn mit mechanischen Pferden, auf denen mechanische Jockeys in bunten Trikots saßen. Man konnte auf eines der Pferde Geld setzen und dann ging es los. Eine Fanfare ertönte, die mechanischen Jockeys wackelten mit den metallenen Hintern und die Pferde ruckelten auf ihren Schienen vorwärts, das Ziel nur zwei Meter entfernt. Einmal war dieses, dann wieder jenes Pferd vorne, sie wechselten sich ständig ab, das machte es spannend. Wenn ein Pferd uneinholbar in Führung schien, dann wurde es plötzlich furchtbar langsam, blieb manchmal fast stehen, und drei andere ruckelten an ihm vorbei. Ständig wechselte die Führung und selbst das Pferd, das nach der Hälfte der Strecke ganz hinten lag, konnte am Ende als Sieger durchs Ziel gehen.
An diese mechanische Rennbahn, an diese mich als Kind seltsam faszinierende Rummelplatz-Attraktion, erinnert mich mein Gefühlsmischmasch. Die Empfindungen wechselten sich ab, alle paar Sekunden übernahm eine andere die Führung. Aber letztlich, und ich bin sehr glücklich darüber, machte eine starke, wenn auch melancholisch gefärbte Zuneigung das Rennen, die zuvor noch abgeschlagen hinter Wut und Enttäuschung zurückgelegen hatte. Erst ganz zum Ende hin schob sie sich nach vorne, ich hatte sie schon fast
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