Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Trotzdem würde ich zittern, zur Tür rennen und an der verdammten Klinke rütteln! Und wenn nun tatsächlich ein schwarzer Arm aus der weißen Wand kommt und mich packt? Vielleicht jetzt gleich, noch während ich darüber nachdenke. Vielleicht schieben sich hinter mir schon die Finger aus der Wand.
Wieder läuft es mir kalt den Rücken herunter … eigentlich ist es eher eine Welle, die in mir nach oben steigt und meine Schultern beben lässt. Ich bin lange genug hier gestanden, nichts ist passiert. Und weil nichts passiert ist (oder bevor etwas passiert?) kann ich jetzt nach drüben gehen, zurück in unser Koch- und Wohnzimmer, das seit letzter Nacht auch unser Schlafzimmer ist.
Zuvor aber mache ich mit klopfendem Herzen – jetzt reiß dich zusammen, verdammt noch mal! – den Kleiderschrank auf. Nichts springt heraus, nichts greift nach mir, nichts glotzt mich an. Tür zu und nichts wie raus hier.
Oh Scheiße! Es ist wirklich hirnverbrannt, was ich hier veranstalte. Um die Sache komplett zu machen könnte ich jetzt noch meine Eltern anrufen: Papa, ich glaube, da ist ein Monster im Schrank. Bitte komm her und schau nach, setz' dich jetzt gleich ins Auto. Und wenn du schon einmal da bist, dann kannst du gleich noch unterm Bett nachschauen. Man weiß ja nie, was sich da alles versteckt.
Andererseits: Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich weiß, dass ich nicht verrückt bin! Da war dieses schwarz behaarte Tier, exakt das Wesen aus meinem Traum. Es war so real wie das schmutzige Geschirr, an dem ich gerade herumkratze. Aber, natürlich kommt der Gedanke, ganz selbstverständlich nistet er sich in meinem Kopf ein: Auch andere Verrückte sind sich sicher, dass sie nicht verrückt sind, das ist doch der Klassiker. Ich verrückt? Nein, auf keinen Fall! Alle anderen? Aber selbstverständlich!
***
Wir haben vier Nächte im Wohnzimmer geschlafen: Donnerstag auf Freitag, Freitag auf Samstag, Samstag auf Sonntag und Sonntag auf Montag. Paula ist wütend, sie will zurück ins Schlafzimmer. Es stört sie, dass die große Matratze hier auf dem Boden liegt und Platz wegnimmt. Es ist nur eine Frage der Zeit bis zum großen Krach. Kurz nach sieben verlässt Paula die Wohnung, der Abschied ist kühl, ihr Frust begräbt unsere Liebe.
„Dann bis später. Mach's gut.”
„Ja, du auch.”
„Und ruf bei diesem Typen an.”
„Ja, mach ich.”
Dann fällt die Tür ins Schloss, ich bin alleine mit der Wohnung und mit meinen Gedanken.
Paula wird nicht locker lassen, sie wird darauf bestehen, dass ich mich bei Strauss melde, dass ich ihm von meinem Alptraum und von meiner „Halluzination“ – das ist ihr Begriff für das, was ich vor vier Nächten gesehen habe – erzähle. Okay, ich habe es versprochen und ich werde es tun … später. Der Handywecker ist auf halb acht gestellt, einschlafen kann ich jetzt nicht mehr, aber es tut gut, einfach nur zu liegen … auf der Matratze im hellen Wohnzimmer, auf dem Boden zwischen Küche, Sofa und Sessel. Ich drehe mich zur Seite, ziehe mir die Decke bis unters Kinn und schließe die Augen.
Als ich so da liege, da ist mir, als höre ich Schritte … ganz leise nur, durch Wände hindurch. Ist um diese Zeit schon der Pflegedienst bei Frau Diehl? Ich dachte, die kommen immer erst um acht. Egal, sind sie heute eben früher. Einmal kräftig gegähnt und auf die Uhr geschaut … noch zehn Minuten, noch zehn Minuten liegen bleiben. Ich liebe es ja, auf die Uhr zu sehen und festzustellen, dass ich noch im Bett bleiben kann. Als ich noch zur Schule ging, da habe ich mir immer den Wecker auf 6.20 Uhr gestellt, obwohl ich erst um 6.40 Uhr raus musste. Einfach damit ich mich jeden Morgen darüber freuen konnte, noch im Bett bleiben zu dürfen. Die meisten, denen ich davon erzählt habe, fanden das bescheuert, trotzdem habe ich es bis zum Abitur so gemacht.
Ich schließe die Augen und denke an den USA-Urlaub, den ich und Paula machen werden. Wieder höre ich Schritte, dann ein knarrendes Geräusch, als würde ein Stuhl verrückt … und dann ein einzelnes Klopfen … als würde jemand mit den Knöcheln auf Holz schlagen. Nachts würden mich diese Geräusche wahnsinnig machen, sie hören sich seltsam nah an, überhaupt nicht wie von mehreren Wände gedämpft.
Ein weiteres Klopfen, Knöchel auf Holz … noch ein wenig näher. Ich öffne die Augen und setze mich auf der Matratze auf, warte auf weitere Geräusche. Als keine kommen, da stehe ich auf und gehe Richtung Badezimmer. Kurz vor der
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