Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Tür drehe ich um. Diese Geräusche eben hörten sich verdammt nah an. Und weil es heller Tag ist, und weil die Sonne durch die Fenster scheint, und weil es die denkbar ungünstigste Zeit für große, schwarze Nachttiere ist, gehe ich nachsehen. Ich öffne die Tür zum Schlafzimmer und schaue hinein. Dann öffne ich auch die Tür zu der kleinen Rumpelkammer, die neben dem Schlafzimmer liegt. Beide Male nichts. Nichts zu sehen und nichts zu hören. Höchstwahrscheinlich kamen die Geräusche aus der Wohnung von Frau Diehl und durch irgendeine akustisch-architektonische Besonderheit hörten sie sich viel näher an, als sie tatsächlich waren. So etwas gibt es, so etwas habe ich schon erlebt. Vor einigen Jahren hatte ich eine Wohnung, in der man die Gespräche der Mieter nebenan belauschen konnte. Man musste nur in der gefüllten Badewanne liegen und die Ohren unter Wasser haben. Jedes Wort konnte man verstehen. Wie so etwas zustande kommt? Ich habe keine Ahnung.
Zurück im Badezimmer mache ich die Sachen, die man im Bad eben so macht. Schließlich betrachte ich mich in dem rechteckigen Badezimmerspiegel mit den abgesplitterten Kanten. Er ist am unteren Rand angelaufen, gerne würde ich ihn austauschen. Aber Paula hängt an dem Ding, sie hat den Spiegel von ihrer Oma bekommen, kurz bevor der alten Frau das Herz stehen blieb. Seitdem nimmt sie das zunehmend hässliche Ding gut verpackt in jede neue Wohnung mit.
Was ich beim Blick in den Spiegel sehe, das gefällt mir nicht. Was mich da anschaut, das wirkt käsig, schlaff, verquollen. Also an die Arbeit, retten was zu retten ist. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, rubbel mir mit dem Handtuch die Haut rot, creme mich ein und massiere an meiner Stirn und meinen Schläfen herum. Okay, schon besser. Zumindest sehe ich lebendig aus. Soll ich mich schminken? Ach nein, wozu denn. Erst mal Frühstück.
Zwanzig vor neun bin ich fertig. Ich stelle das mit Marmelade und Brotkrümeln verklebte Geschirr in die Spüle, wasche mir die Hände … dann noch einmal das Gesicht, und dann … es führt kein Weg daran vorbei, ich habe es versprochen und Paula wird mich danach fragen … rufe ich bei Doktor Strauss an. Nach kurzem Smalltalk stellt mich seine Sekretärin zu ihm durch.
„Ach hallo Frau Pander! Nett mal wieder von Ihnen zu hören. Wie geht es Ihnen?”
„Ganz gut so weit. Ich hoffe, Ihnen geht es auch gut.”
„Nun ja, sagen wir altersgemäß”, antwortet Herr Strauss. Er ist einer der Menschen, deren Alter ich nicht schätzen kann. Doktor Strauss könnte fünfzig sein oder siebzig.
„Was denken Sie, wie alt bin ich?”
Manchmal ist mir dieser Mann unheimlich. Kann er Gedanken lesen?
„Ich bin nicht gut bei so was, ich kann eigentlich nie das Alter von jemand einschätzen”, versuche ich mich herauszureden. Mir sind solche Situationen unangenehm. Vor ein paar Monaten habe ich einer Dreißigjährigen zum vierzigsten Geburtstag gratuliert. Sie hat mich angeschaut, als wäre ich das letzte Stück Scheiße. Aber ich dachte wirklich, sie wäre vierzig, das war überhaupt nicht böse gemeint.
„Ich bin 65 Jahre alt”, sagt Strauss, nach einer kleinen Pause.
„Ich hätte Sie jünger geschätzt”, antworte ich.
„Danke. In Ihrem Alter konnte ich mir übrigens überhaupt nicht vorstellen, einmal 65 zu sein. Auch heute kann ich es mir eigentlich nicht vorstellen”, lacht Dr. Strauss. „Aber jetzt sagen Sie einmal. Was verschafft mir die Ehre, Ihrer jugendlichen Stimme lauschen zu dürfen?”
Ich brauche ein wenig Anlauf, um zur Sache zu kommen. Aber dann erzähle ich Strauss von meinem Alptraum, von der Sache mit dem Kleid und von dem großen, schwarzen Tier, das mich vor wenigen Nächten aus der Dunkelheit angeglotzt hat. Er hört mir zu, unterbricht mich nicht ein einziges Mal. Nur ab und zu ein leises Mhm oder ein sanftes Ja, nur damit ich weiß, dass er mir folgt.
Als ich meinen Bericht beendet habe, da fragt mich Strauss, ob auch meine Freundin etwas gesehen hat. Das überrascht mich. Glaubt er mir, dass da etwas war? Glaubt er mir, dass tatsächlich ein Wesen zwischen Wand und Kleiderschrank stand, also etwas, das auch jemand anders hätte sehen können? Nein, Paula hat nichts gesehen. Nur das erschrockene, verwirrte Mädchen, mit dem sie seit Jahren zusammen ist, das sie nachts an den Haaren zieht, das Ärztin werden will und das eigentlich vernünftig sein sollte.
„Und haben Sie schon mit jemand anderem über das gesprochen, was Sie gesehen
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