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Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Titel: Vierter Stock Herbsthaus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Susami
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Straffheit. Er wirkt um Jahre jünger, als wäre er aus einer Art Lethargie erwacht.
    „Meine Geliebte.”
    „Ihre Geliebte?”, fragt Strauss.
    Herr Schlechter lächelt. Er sitzt stumm da und lächelt in sich hinein. Wer immer sie auch ist, diese Geliebte, in diesem Moment scheint er bei ihr zu sein. Doch so plötzlich, wie sie gekommen ist, verschwindet die Straffheit. Da sitzt wieder ein ernster, schwächlicher Mann.
    „Ihre Geliebte?”, wiederholt Strauss seine Frage.
    „Ja … meine Geliebte”, sagt Schlechter. Die Worte kommen leise, flach, ohne jede Betonung. Etwa zehn Sekunden vergehen, bevor Strauss nachhakt.
    „Wer ist das, Ihre Geliebte?”
    Schlechter hebt den Kopf und lächelt. Es ist ein böses, ein tückisches Lächeln, ein Lächeln, von dem mir kalt wird. Mit diesem Mann ist etwas ganz und gar falsch. Ein Mann, der so lächelt, ist zu allem fähig.
    „Halt dein Maul”, zischt Schlechter. Wieder vergehen einige Sekunden, bevor Strauss spricht.
    „Wieso wollen Sie, dass ich ruhig bin?”
    „Den ersten holen die Wölfe, den zweiten holt der Bär, den dritten holt der Jäger, mit dem Schießgewehr.”
    „Was hat das zu bedeuten?”, fragt Strauss. Schlechter schaut auf den Tisch, antwortet nicht. Einige Sekunden sitzt er völlig starr, dann nimmt er ruckartig die rechte Hand zum Mund. Der alte Mann kaut wie ein kleines Kind auf seinen Fingernägeln.
    „Was haben diese kleinen Gedichte zu bedeuten, die Sie manchmal aufsagen?”, fragt Strauss. Und als Schlechter nicht antwortet: „Sind das Kinderreime?“
    Schlechter legt die Hände auf den Tisch, schaut in die Kamera und setzt wieder sein ekelhaft bösartiges Lächeln auf. Ohne es zu wollen, drücke ich meinen Rücken gegen die Stuhllehne, weiche vor ihm zurück, vor diesem Mann auf dem Bildschirm. Mir kommt der Gedanke, dass Alex ihn damals einfach hätte verbluten lassen sollen. Natürlich weiß ich, dass dieser Gedanke furchtbar ist, natürlich weiß ich, dass ich als zukünftige Ärztin so etwas nicht denken darf. Aber es gelingt mir einfach nicht, diesen Gedanken abzutöten … oder ihn zumindest unter anderen Gedanken zu begraben. Langsam schiebt der Mann auf dem Bildschirm sein Hemd nach oben und entblößt den großen, dick gepolsterten Verband, der seine Bauchwunde abdeckt. Er beginnt, mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand über den Verband zu streichen, fast zärtlich wirkt sein Betasten. Hoffentlich reißt er sich das Ding nicht gleich ab, ich will auf keinen Fall diese Wunde sehen.
    „Was haben diese kleinen Gedichte zu bedeuten, die Sie manchmal aufsagen?”, wiederholt Strauss seine Frage. Schlechter lässt von seinem Verband ab, legt die Hände auf den Tisch.
    „Das geht dich nichts an, Kerl.”
    „Wieso geht mich das nichts an?”
    „Weil es dich nichts angeht.”
    „Wie heißt Ihre Geliebte?”
    „Ist das von Bedeutung?”
    „Ich würde es gerne wissen. Bitte sagen Sie mir, wie sie heißt.”
    „EHER FRESS ICH RASIERKLINGEN!“, brüllt Schlechter. Dann ganz leise:
    „Ich weiß nicht, wie sie heißt.”
    „Wo sind Sie Ihrer Geliebten das erste Mal begegnet?”
    „Das habe ich Ihnen bereits erzählt. Sie scheinen ein außergewöhnlich schlechtes Gedächtnis zu haben.”
    „Ich habe tatsächlich ein schlechtes Gedächtnis”, antwortet Strauss. „Würden Sie mir bitte noch einmal erzählen, wo Sie Ihrer Geliebten begegnet sind. Mir liegt wirklich sehr viel daran.”
    Schweigen. Schlechter richtet den Blick auf die Tischplatte. Als er einige Sekunden später den Kopf hebt, da ist alles Gemeine, alles Aggressive aus seinem Gesicht verschwunden. Da sitzt ein alter Mann mit traurigen Augen.
    „Bitte entschuldigen Sie mein Verhalten, Herr Professor. Manchmal bin ich nicht ganz bei mir. Ich habe das Wesen, das ich gerade als meine Geliebte bezeichnete, in meiner Wohnung getroffen. Es war schon lange vor mir da. Ich bin nicht imstande zu sagen, wer oder was sie ist. Aber ich liebe dieses Wesen … und es bringt mich um, dass ich ihm nicht wieder begegnen werde. Aber ich weiß auch, dass dieses Wesen mein Untergang sein wird, falls ich zu ihm zurückkehre. Das Krankenhaus, in das ich mich vor einigen Wochen geflüchtet habe, ist meine Rettung und mein Unglück. Es ist wirklich furchtbar für mich.”
    „Herr Schlechter, ich würde Ihnen gerne helfen.”
    „Das weiß ich … und ich bin auch sehr dankbar, dass ich hier so gut behandelt werde. Alle sind sehr nett zu mir. Sagen sie bitte allen, dass ich sehr dankbar

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