Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
bin.”
„Ja, natürlich. Nun, damit ich Ihnen helfen kann, müssen Sie mir auch erzählen, was Ihnen auf der Seele liegt. Warum haben Sie versucht, sich umzubringen?”
„Weil es so schwer zu ertragen ist … und jetzt möchte ich gerne abbrechen. Könnten Sie die Schwester rufen? Ich bitte Sie, meinen Wunsch zu respektieren. Ich möchte nicht mehr über die Angelegenheit reden. Bitte akzeptieren Sie das. Es sind hier wirklich alle sehr nett zu mir.”
Der Bildschirm wird schwarz, die Aufnahme ist zu Ende. Einige Sekunden hört man noch den Ton, das Rücken von Stühlen und ein Räuspern. Dann ist es still.
***
Strauss hat die Videokassette aus dem Gerät genommen, sie in eine von Hand beschriftete Hülle geschoben und den großen Fernseher ausgeschaltet. Er setzt sich mir gegenüber und streckt mir seine mit Altersflecken gesprenkelte Hand hin. Was soll das werden? Wieso will er, dass ich seine Hand nehme? Ist das irgendein psychologischer Trick, um Vertrauen zu schaffen?
Ich nehme die Hand nicht und Strauss zieht sie zurück. Er weiß nicht wohin damit, fährt sich durchs Gesicht und kratzt sich am Kinn. Dann legt er beide Hände in den Schoß und lässt die Schultern hängen. Der Mann mit den vielen Doktortiteln wirkt auf einmal wie ein Schuljunge, der etwas angestellt hat, zum Direktor bestellt wurde und nun auf die Verkündung der Strafe wartet. Es ist lächerlich.
„Frau Pander, ich-”, beginnt Strauss, bricht ab und überlegt. Die muntere Selbstsicherheit des alten Mannes hat Risse bekommen. Nach fünf Sekunden ein neuer Anlauf.
„Frau Pander. Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört und mit mir diese Aufnahme angesehen haben. Natürlich hätten Sie allen Grund, einfach aufzustehen und Ihrer Wege zu gehen … aber ich bin sehr froh, dass Sie es nicht getan haben. Ich möchte Ihnen ein Angebot-”
„Brauchen Sie mich als so eine Art Laborratte?”, unterbreche ich Strauss.
„Wie meinen Sie?”
„Bin ich Ihre Laborratte … das Versuchstier, das man einer belastenden Umgebung aussetzt, um zu sehen, wie es reagiert?”
„Nein, natürlich ni-”
„Immerhin haben Sie mich in eine Wohnung gesteckt, in der schon eine Menge Leute seltsame Dinge gesehen haben und sich anschließend umbringen wollten.”
Strauss wirkt erschrocken. Er nimmt die Hände vor die Brust, eine Geste der Beschwichtigung.
„Der Mann, der sich umbrachte, wohnte in der benachbarten Wohnung … und Herr Schlechter ist wieder psychisch stabil, er wird keinen weiteren Suizidversuch unternehmen. So weit ich weiß, hat niemand, der in Ihrer Wohnung lebte, einen Selbstmordversuch unternommen.”
„Auf dem Video sah Herr Schlechter nicht besonders stabil aus.”
„Mittlerweile geht es ihm besser, er hat sich gefangen, er reflektiert seine Situation. Ich war vor zwei Tagen bei ihm, Sie können mir glauben. Allerdings will er immer noch nicht über das sprechen, was er „meine Geliebte” genannt hat.”
„Okay ... aber wieso haben Sie ausgerechnet mich für Ihr Experiment ausgewählt? Wir beide kennen uns doch kaum.”
„Experiment ist wirklich der falsche Ausdruck. Ich betrachte Sie keineswegs als Teil eines Experiments, Frau Pander, das müssen Sie mir bitte glauben. Wie dem auch sei … als Sie bei uns auf Station gearbeitet haben, da habe ich durch eine Schwester mitbekommen … zufällig mitbekommen, dass Sie eine Wohnung suchten. Und da habe ich das eingefädelt. Es war klar, dass Herr Schlechter nicht in die Wohnung zurück konnte, sie war also frei. Herr Egner, Ihr Vermieter, ist ein entfernter Bekannter von mir. Eigentlich wollte er die Wohnung nicht wieder vermieten, ich konnte ihn aber umstimmen. Nur hat er wohl vergessen, seine Sekretärin zu instruieren.”
Strauss lächelt mich an, hält dabei den Kopf gesenkt.
„Gut … aber warum gerade ich?”
„Nun ja, zum einen weil Sie eben auf Wohnungssuche waren. Zum anderen habe ich Sie als eine sehr reflektierte und aufgeweckte Person erlebt. Hinzu kommt, dass Sie eine Frau sind. Mir ist nicht bekannt, dass jemals einer Frau, die im vierten Stock dieses sogenannten Herbsthauses lebte, irgendetwas zustieß … also etwas tatsächlich Bedrohliches. Zwei Wohnungen neben Ihnen wohnt ja seit Jahrzehnten eine ältere Dame. Auch sie hat wohl nichts erlebt, was sie zum Verlassen ihrer Wohnung genötigt hätte.”
Ich merke, dass ich müde werde. Das ist alles zu viel. In was für einen Mist bin ich hier hineingeraten?
„Und was genau wollen Sie nun von
Weitere Kostenlose Bücher