Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Stirn küsst, da komme ich mir vor wie das letzte Stück Scheiße.
Natürlich habe ich überlegt, ihr einfach die Wahrheit zu sagen, ihr offen zu sagen, dass wir in einem beschissenen Spukhaus wohnen, in dem sich gerne auch mal Leute im Keller erhängen … aber keine Sorge Schatz, ich häng' mich nicht auf, ich krieg nur nachts Besuch von Ungeheuern und habe tagsüber Angst, dass Hände aus der Wand kommen.
Ich habe wirklich überlegt, ihr alles zu erzählen. Aber was wäre das Resultat gewesen? Paula hätte nicht nur mich für bescheuert gehalten, sondern auch Strauss. Eine verrückte Studentin, die sich vom verrückten Professor für 1500 Euro monatlich als Geisterjägerin engagieren lässt – na klasse!
Es ist jetzt kurz nach acht und noch dringt durch den Lichtschacht in der Mitte des Hauses Helligkeit in die runden Flure. Mit dem Kontrollgang durchs Haus bin heute ich dran, also los. Ich schnappe mir Schlüsselbund, Taschenlampe und Protokollzettel, gebe Paula einen Kuss und gehe hinaus auf den Flur. Es ist völlig still.
Ich mache sechs Schritte und stehe vor der Wohnung, die zwischen unserer und der von Frau Diehl liegt … und die Strauss zufolge das Zentrum des Spuks ist. Hinter dieser Tür wohnte der Keller-Mann. Hier beugte sich die alte Frau über das schreiende Kind. Soll ich die Tür öffnen? Was, wenn das schwarze Tier hinter der Tür steht. Oder der Mann, den sie vom Heizungsrohr geholt haben … mit gebrochenem Genick, verdrehten Augen und heraushängender Zunge. Scheiße, ich komme mir vor wie eine Achtjährige, deren Eltern sie alleine zu Hause gelassen haben, die heimlich einen Horrorfilm geschaut hat und jetzt hinter jeder Ecke Monster vermutet.
Plötzlich wird mir kalt ... meine Schultern beben und ich lasse den Generalschlüssel sinken. Mein Mut hat mich verlassen, zusammen mit meiner Rationalität hat er sich in den hintersten Winkel meines Schädels verkrochen. Oder ist es meine Rationalität, die mir sagt, dass ich diese Wohnung nicht betreten werde? Verdammte Scheiße, ich weiß doch, dass hier etwas ist … und trotzdem versuche ich mir immer noch einzureden, dass ich mir alles nur einbilde. Nein verdammt, dieses Tier war real … nicht nur ich habe es gesehen. Und warum verdammt sollte es nicht hinter dieser Tür lauern?
Ich gehe weiter Richtung Treppenhaus, an dem blöden Aufzugschacht vorbei, ganz nach unten und hinaus ins Freie. Ich atme kühle Abendluft und höre entferntes Hundegebell.
Okay, die vielen Fenster sind in Ordnung, keines eingeworfen. Es liegt auch kein Müll rund um das Haus. Ich bin wieder an der Vorderseite und als ich die wenigen flachen Stufen zur Eingangstür hinaufsteige, da sehe ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung.
„Hallo? Ist da wer?”
Keine Antwort. Aber ich bin mir sicher, dass ich etwas gesehen habe.
„Hallo. Keine Sorge, ich will nichts von Ihnen.”
Ich steige die Stufen hinunter und gehe einige Meter um das Haus herum. Ein niedriges, halb zerfallenes Mäuerchen trennt ein Viereck ab, das war mal ein Biergarten. Schmutzige, rote Schirmständer stehen herum, die Dinger sind mir schon letztes Mal aufgefallen.
Ganz langsam, so wie man sich an ein scheues Tier heranschleicht, nähere ich mich dem Fenster zur Küche, es ist geschlossen. Aber ich bin mir sicher, dass jemand eingestiegen ist. Oder jemand wollte aussteigen, hat mich gesehen und ist schnell wieder zurück geschlüpft. Vorsichtig klopfe ich an die Scheibe … keine Reaktion. Noch ein Klopfen … wieder nichts.
Ich warte einige Sekunden, schließlich weiß ich nicht, was das für Leute sind, die sich hier eingenistet haben. Dann traue ich mich doch, lege die Hände auf das kühle Glas und drücke. Einen kleinen Spalt öffnet sich das Fenster, dann spüre ich Widerstand. Von dem Expanderseil kommt er nicht, das ist ausgehängt. Als ich mich nach vorne beuge und meine Stirn an die Scheibe lege, da sehe ich unten am Fensterrahmen fünf kleine blasse Finger. Jemand hält dagegen, jemand hält das Fenster zu.
„Hallo, ich möchte nur mit Ihnen sprechen. Ich habe nichts dagegen, dass Sie hier sind.”
Die blassen Finger verschwinden vom Fensterrahmen, ihre Besitzerin steht vom Boden auf und öffnet das Fenster. Mir gegenüber steht ein junges Mädchen mit kurzen braunen Haaren, höchstens Achtzehn. Sie sieht ganz normal aus, überhaupt nicht ...nun ja … obdachlos.
„Hi”, sage ich.
„Hi.”
Das Mädchen hat wache Augen in einem kleinen, runden Gesicht. Wahrscheinlich ist sie
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