Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
doch so Tobi, oder? Wir hauen ab aus diesem bescheuerten Land und fangen woanders an. Ist doch so?”
Er lehnt sich rüber zu ihr, nimmt sie in den Arm und sagt ihr, dass es so ist. Was für eine tragische Scheiße: Das naive kleine Mädchen, der kaputte Mann und der Traum von Kanada. Während er ihr immer wieder sagt, dass es so ist, dass sie es zusammen bis nach Kanada schaffen werden, wächst in mir der Wunsch, einfach abzuhauen, diese Szene hinter mir zu lassen. Der Typ sieht nicht aus, als würde er es weiter als bis zum nächsten Supermarkt schaffen.
Fünf Minuten später verabschiede ich mich, ich muss hier weg. Außerdem will ich nicht, dass Paula sich Sorgen um mich macht. Langsam wird es dunkel und ich habe noch die ganzen Stockwerke vor mir. Am liebsten würde ich schummeln und einfach die Häkchen machen, meine rechte Hand spielt schon mit dem Kugelschreiber.
***
„Hi, unbeschadet zurück?”
„Nein … also ja. Aber ich muss noch mal los, dauert heute etwas länger. Ich hab' unten die Typen getroffen, die in diesem Restaurant wohnen, das dichtgemacht hat.”
„Und was sind das für Leute? Sind die harmlos?”
„Ja, ein Typ und 'ne junge Frau. Wollen nach Kanada auswandern.”
„Interessant. Sind sie schon am packen?”
„Nee … ist irgendwie tragisch das mit Kanada. Aber lass uns da nachher drüber reden, ich geh mal los.”
„Soll ich mitkommen?”
„Nein, musst du nicht. Bis gleich.”
„Soll ich wirklich nicht mitkommen?”
„Nein, musst du echt nicht … mir geht es gut. Bis gleich!”
Schon bin ich wieder auf dem dunklen, runden Flur. Schon sitzt mir wieder die verdammte Angst im Nacken. Durch die geschlossene Wohnungstür hindurch höre ich den Fernseher, meine Paula ist nur wenige Meter von mit entfernt … noch könnte ich die Tür öffnen, wieder hinein gehen und in Ruhe meine Häkchen machen. Es kostet mich Überwindung, es nicht zu tun, nicht zu schummeln.
Okay, jetzt stehe ich wieder, wieder einmal, vor dieser Tür, vor der verdammten Tür, hinter der doch höchstwahrscheinlich nur eine leere Wohnung ist … oder das Mädchen mit den Verbänden, oder das große schwarze Tier, oder der Mann, der sich erhängt hat, oder – Überraschung! – alle zusammen. Meine Phantasie rast, zaubert, stößt meinen Verstand vor sich her, zerrt mit blutbeschmierter Hand schreiende Kaninchen aus bunt bemalten Zylindern. Ich höre mein Herz klopfen und gehe weiter, vorbei am Fernsehlärm, der aus Frau Diehls Wohnung schwappt und weiter bis in den wunderbar geraden Flur, der vorbei an meinem großmäuligen Feind, dem Aufzug, dem unter keinen Umständen zu trauen ist, zum Treppenhaus führt.
Abwärts, hinunter in den ersten Stock. Meine Schritte hören sich furchtbar laut an und ich bilde mir ein, dass irgendetwas diesen von mir verursachten Lärm dazu nutzt, sich an mich heranzuschleichen. Vielleicht macht es ja immer dann einen Schritt, wenn auch ich einen Schritt mache. Scheiße Lena! Reiß dich zusammen! Der allergrößte Teil dieses großen Hauses ist völlig harmlos, nur der verdammte vierte Stock ist nicht normal, nur dort passieren diese Dinge. Andererseits … was sollte die paranormalen Bewohner des vierten Stockes daran hindern, einfach mal hinunterzugehen. Vielleicht folgen sie mir ja, vielleicht ziehe ich eine ganze Geister-Polonaise hinter mir her. Am Anfang das kleine Mädchen mit dem Verband, dann die alte Frau ...und ganz zuletzt, über die Köpfe der anderen grinsend, das schwarze Tier. Oh! Fast habe ich den Mann mit der heraushängenden Zunge vergessen. Wenn ich mich jetzt umdrehe, dann sind sie direkt hinter mir. Warum sollten sie denn nicht hinter mir sein?
Stopp! Es reicht! Ich dreh hier noch durch. Ich muss Ordnung in meinen Kopf bringen. Erstens: Es gibt keine Berichte über unerklärliche Phänomene in anderen Stockwerken. Zweitens: Ich darf nicht so naiv sein, an Gespenster zu glauben. Ich weiß nur, dass in diesem Haus verschiedene Menschen (und ich bin einer dieser Menschen) irgendwelche Gestalten gesehen haben. Ich weiß absolut nichts über die Gründe für diese Erscheinungen. Und drittens: Dieser Mann mit der heraushängenden Zunge ist nichts weiter als ein saublödes, komplett lächerliches Horrorklischee, das sich irgendwie in meinem Kopf verhakt hat. Niemand hat hier jemals einen Mann mit blauem Gesicht und heraushängender Zunge gesehen! Nur weil sich einer im Keller erhängt hat, heißt das nicht, dass er jetzt hier unterwegs ist.
Ich
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