Villa des Schweigens
ich den Blick schnell abwandte. Die Hälfte des Gartens lag schon im Schatten. Jemand hatte in meiner Abwesenheit offenbar etwas gelesen, auf der Steinbank befand sich ein aufgeschlagenes Buch. Den herrlichen Busch daneben mit den riesigen roten Blüten hatte ich ein paar Stunden zuvor gar nicht wahrgenommen.
Ich streckte meine Arme in die Luft und zog an meinen Fingern, bis sie knackten. Niemand war da, der mich deswegen anmeckerte.
»Gut gemacht, Nina«, sagte ich leise zu mir selbst.
Es dauerte keine Stunde, da hatte ich alles ausgepackt und verstaut. Meine wenigen Sachen bewirkten kaum eine Veränderung in dem Riesenzimmer. Vielleicht würde ein Poster das Ganze auflockern. Mein Handy zeigte mehrere Nachrichten an, allesamt von meiner Mutter und alles Variationen von: Wo bist du und warum kaufen wir dir so ein teures Handy, wenn du nicht rangehst? Seufzend wählte ich ihre Nummer. Sie nahm sofort beim ersten Klingeln ab.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie atemlos, bevor ich noch irgendwas sagen konnte.
»Natürlich, Mam. Was soll denn nicht in Ordnung sein?«
»Bist du bei Franziska?«
»Nein. In meinem neuen Zimmer.« In meiner Stimme klang Stolz.
»Ach, so schnell schon? Ich dachte, du wolltest erst mal bei Franziska bleiben. Ist doch auch billiger. Oder wollte sie dich nicht mehr?«
»Nein, ganz im Gegenteil. Aber die Zwillinge ...«
»Mir brauchst du nichts zu erzählen. Ich kann's mir lebhaft vorstellen. Franziska war noch nie besonders organisiert und Onkel Thomas macht sich ausgerechnet jetzt auf nach Kanada, als ob das nicht warten –«
»Mam, mein Zimmer ist echt toll!« Jetzt bloß kein Monolog über die Verwandten.
»Wie teuer? Wie viele Quadratmeter? Und ist deine Vermieterin nett?«
»Ich ...«
»Benimm dich nur, nicht dass du gleich wieder rausfliegst. Darfst du die Waschmaschine benutzen?«
»Mam, es gibt Waschsalons. Und mein Zimmer ist riesig und toll. In einer Villa!«
»In einer Villa ist es«, hörte ich die gedämpfte Stimme meiner Mutter. Offenbar gab sie die Informationen an meinen Vater weiter.
»Wo?«, fragte sie, auf einmal wieder laut. Sie klang misstrauisch.
»In der Südstadt«, stammelte ich. »Ich maile euch die Adresse.« Ich biss mir auf die Lippe. Am Ende kamen sie noch auf die Idee, hier aufzutauchen, um nach dem Rechten zu sehen.
Es klopfte an meiner Tür.
»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte ich erleichtert. »Irgendwer will was von mir.«
»Irgendwer? Wie viele sind denn da ...«
»Ich kann dich ganz schlecht hören. Tschüss, Mam«, brüllte ich und unterbrach die Verbindung. Dann öffnete ich die Tür.
Benjamin stand davor. Er war kaum größer als ich, fiel mir jetzt auf.
»Julius hat gekocht. Wenn du magst, kannst du mitessen, meint er. Weiß ja nicht, ob du das willst.«
»Ist es denn so ungenießbar?«, rutschte es mir heraus. Es sollte ein Witz sein, aber er zuckte erschrocken zurück. Mit seinen schwarz gefärbten Haaren sah er eigentlich ganz süß aus. Er hatte beneidenswert lange Wimpern. Meine beste Freundin Nadja hätte sich auf der Stelle an ihn rangeschmissen.
»Klar, gern. Toll. Danke.« Mein übertriebener Enthusiasmus war offenbar auch fehl am Platz. Benjamin vermied es, mich anzusehen.
Was war denn mit dem los? So was Schüchternes war mir ja noch nie begegnet.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, erst zu duschen,aber irgendwie erschien es mir unhöflich, jetzt nicht gleich zum Essen zu kommen. Ich kämmte mir wenigstens schnell die Haare und tupfte ein bisschen Lippenstift auf. Plötzlich kam mir ein beunruhigender Gedanke.
Was, wenn die immer alle zusammen aßen? Vielleicht hatten sie ja so eine Art Kochroutine, bei der jeder einmal dran war? Danach hatte ich gar nicht gefragt. Ich musste unwillkürlich an den einsamen Kochtopf in meinem Schrank denken.
In der Küche roch es lecker. Auf dem Herd blubberte etwas in einer Pfanne, das aussah wie Chili. Julius rührte mit großem Vergnügen darin herum.
»Hey, Nina«, sagte er fröhlich. »Hoffentlich bist du nicht Vegetarier oder so was?«
»Nein, ich esse alles. Außer Leber«, fügte ich schnell hinzu.
»Oh Gott, Leber, widerlich«, sagte Claire. Sie saß am Tisch und zerschnitt ein Baguette in kleine Scheibchen.
»Riecht gut«, bemerkte ich höflich.
Julius stellte mir ungefragt ein Bier vor die Nase und nahm sich selbst auch noch eins. Sein Gesicht war ganz rot, ob vom Kochen oder vom Alkohol, war schwer zu sagen. Eigentlich hasste ich Bier.
»Warum er sich die Mühe
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