Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition)
leitete, war das völlig egal, für die Gestrandeten war es verheerend.
Zum anderen wurden neuerdings öfter Tiere in der Nähe des Lagers gesichtet. Und sie waren nicht so harmlos, wie sie anfangs gewirkt hatten. Ein Kind, das in Richtung Süden gehend zuletzt gesehen worden war, blieb spurlos verschwunden. Die fremde Welt ging daran, sich verlorenes Terrain Stück für Stück zurückzuholen. Man brauchte so viel Technologie, wie man kriegen konnte, um die Siedlung abzusichern. Merkwürdige struppige Triebe tauchten aus dem Boden auf, unterirdisch ausgeschickt von den knäuelartigen Pflanzen außerhalb des Lagers. Die Wurzeln waren äußerst zäh und mehrere hundert Meter lang. Die Vorräte, die man aus dem Schrottgebirge herausgeschleppt hatte, gingen schneller zur Neige als vermutet – schließlich waren über vierhundert Personen zu versorgen. Und als wären das nicht Sorgen genug, kamen Babys zur Welt. Kleine Menschen mit einem wohlüberlegten elterlichen Timing, darauf abgestimmt, kurze Zeit nach der Ankunft auf einer neuen Welt das Licht einer neuen Sonne zu erblicken. Stattdessen erblickten die kleinen Kerle das graue Licht einer ewig wolkenverhangenen Welt, die keine Menschenseele je für eine Besiedlung in die nähere Wahl gezogen hätte. Und alle hatten Appetit, und all die Kalorien, die im Lager verzehrt wurden, ließen die Vorräte schmelzen. Bei den Berechnungen war Tina ein simpler Fehler unterlaufen: Sie hatte nicht bedacht, dass auf Vilm der menschliche Körper im Ruhezustand mehr Kalorien verbrauchte, als in den Standard-Dateien angegeben war. Der Regen, der täglich fiel, forderte seinen Tribut, ebenso die niedrige Temperatur.
Elizas wichtigster Grund, bei dem Unternehmen mitzumachen, war persönlich und egoistisch. Womöglich konnte sie wenigstens Mareks Freundschaft gewinnen, dachte sie, oder sich zumindest mal an Marek festklammern, wenn Gefahr war. Oder auch, wenn keine Gefahr drohte. Einfach in seiner Nähe sein ... Nur Joern wusste von dieser heimlichen Aktion und würde – wenn sie nicht zurückkehren sollten – bei Tina beichten gehen.
Tina ... Die einst so selbstsichere Chefin war stark abgemagert. Seit die Hoffnungen auf ein erträgliches Überleben auf Kosten der Trümmer sich zerschlagen hatten, verwandelte sie sich zusehends in ein mürrisches Nervenbündel. Sie hatte ein straffes Rationierungssystem eingeführt, gegen den Willen der restlichen Regierung. Die Erwachsenen lebten von Minimalportionen, und trotzdem schwanden die Vorräte beängstigend rasch dahin. Man konnte ja schlecht stillende Mütter auf Diät setzen. Es musste etwas geschehen. Also waren Marek und Eliza bei Nacht und Nebel – und das im wörtlichen Sinne – losgezogen, die benötigten Teile aus dem Gebirge zu holen. Sie waren in eine Trümmertransportlinie geraten und hatten sich nur mit Mühe vor den teilnahmslos dahinrollenden Fahrzeugen retten können. Dann mussten sie einem Plasmaschweißapparat ausweichen, der seine Umgebung rücksichtslos auf über zweitausend Grad aufheizte und so den Panzerplatten zu Leibe rückte. Auch dieser Automat, gesteuert von dem herzlosen Gespenst in den Ruinen, nahm keinerlei Notiz von ihnen. Bei der Flucht vor diesem Inferno waren die beiden Schatzsucher gezwungen gewesen, in ein fast völlig zerstörtes Segment einzusteigen. Der bedenkenlos feuernde Schweißapparat hatte ihnen den Rückweg für immer versperrt, mit höllischer Hitze und geschmolzenem Metall. So mussten sie durch die absolute Finsternis eines zerdrückten und verzogenen Segmentes hindurch.
Es war eine eigene kleine vertrackte Welt der Sackgassen, wie absichtlich aufgestellt. Ein Liftschacht endete nur wenige Meter vor dem ersehnten Ende – Eliza und Marek sahen bereits das trübe Licht der Regenwelt Vilm –, aber ein großes verkantetes Aggregat versperrte ihnen den Durchschlupf. Marek war zwar sportlich gebaut, jedoch weit von der Körperkraft eines Karnesen entfernt. Er konnte solche Hindernisse nicht aus dem Weg schaffen. Auch zusammen mit der alles andere als schwächlichen Eliza hatte er in solchen Fällen keine Chance. Ein ehemaliges Biolabor konnten sie nicht durchqueren, weil alles mit rasiermesserscharfen Splittern gespickt war. Und immer wieder gab es Türen, die sie mit dem Werfer aufschießen mussten und hinter denen sich meterbreite Spalten auftaten oder undurchdringliche Trümmer stapelten. Das Segment, in dem Eliza und Marek umherirrten, war nach seiner unsanften Landung von einem zweiten
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