Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition)
schwammen in Tränen, blickten den Arzt voll ohnmächtiger Wut an. Dann stürzte er mit ersticktem, gurgelndem Laut auf den Doktor zu, ohne auf seinen Vater zu achten. Will sprang Mechin an, ein kleiner Junge, und warf ihn um, während sein blutiger Speichel über die Kleidung des Arztes sprühte. Wer weiß, was er außerdem getan hätte, wenn ihn sein Vater nicht weggerissen hätte. Mechin war wie gelähmt, denn in diesem Augenblick war ihm aufgegangen, dass dieses Kind gespürt haben musste, was in ihm vorgegangen war. Kinder haben feine Fühler für die Dinge, die sie noch nicht verstehen. Mechin traf das wie ein Guss kalten Wassers. Frost drang ihm in die Knochen.
Will brach zusammen, wurde ins Bett gebracht, um das plötzlich die ganze Familie herumstand. Nun hatte der Kleine einundvierzigkommaeins und würgte schwer. Die Anstrengung des Kampfes hatte ihn mitgenommen. Mechin besaß keinerlei Antibiotika, hatte nur Notbesteck dabei. Das Kind würde ersticken. Er tat das Einzige, was ihm möglich war. Setzte einen sauberen Schnitt am Hals, öffnete die Luftröhre unterhalb jenes Bereiches, der von den dicken Belägen der Krankheit verstopft war, und setzte jene kleine silberne Röhre ein, die bereits einem Dutzend Kinder das Leben gerettet hatte. Der Arzt versorgte die Wunde so weit wie möglich, gab der Mutter die nötigen Anweisungen und ging wieder in seine Einzelzelle.
Dort setzte er die Versuche fort, im Labor aus wenigen Grundstoffen mit zusammengestoppelten Teilen medizinischer Apparaturen einfache Antibiotika herzustellen. Entweder das, oder er analysierte die seltsam aussehenden Früchte der Gestrolche, ob die essbar oder als Medizin verwendbar sein mochten. In den nächsten Tagen ging er wieder und wieder zu Will Carlos, der meist fiebernd und regungslos dalag. Jedesmal, wenn Mechin ihn sah, krampfte sich etwas in seinem Leib zusammen. Er konnte nicht vergessen, wie sich etwas in ihm, das er nicht wahrhaben wollte, verselbstständigt hatte. Und er konnte nicht vergessen, dass Will es wusste.
Die Seuche griff dann rasch um sich und verschaffte Mechin Ablenkung, sodass Will aus seinem Gedächtnis verschwand und er seine Genesung nur am Rande vermerkte. Der Arzt hatte nur daran zu denken, wie er das Silberröhrchen möglichst schnell reinigen und sterilisieren lassen und wieder verwenden könne, denn er hatte sie bitter nötig, die Dinger. Jeden Tag waren wieder eins oder mehrere Kinder fällig. Die meisten von ihnen waren nach der überstandenen Pseudo-Diphtherie so gut wie niemals wieder krank. Als hätte sie diese eine wirklich schlimme Infektion gegen alles andere gefeit. Mechin hatte manchmal den Eindruck, in einem grippe- und erkältungsfreien Paradies zu leben. Leider regnete es in diesem Paradies ohne Unterlass. Und für manchen war es tödlich. Die Kinder, die der Krankheit nicht widerstanden, starben entweder sofort oder bei heftigen Rückfällen, die in raschen Abständen folgten. Nur ganz wenige bekamen die Pseudo-Diphtherie nicht.
Will wurde gesund und wuchs zu einem Jungen heran, der auffiel. Kräftig, untersetzt, mit einem kleinen Problem, was seine Figur betraf. Will war immer bereit, anzupacken und zu helfen, mit einer Ausnahme; stets freundlich und ruhig, mit einer Ausnahme; selbstbewusst und sicher, mit einer Ausnahme. Mechin hatte ihn ehrlich gern, er mochte ihn wirklich ... Die Ausnahme war Mechin, der Arzt.
Will war, wenn der Doktor mit ihm sprach – sprechen wollte – seltsam; sein Gesicht erstarrte, er zog sich in sich selbst zurück, seine Haltung bekam etwas Geducktes und Ängstliches, und Mechin fing an, ihm aus dem Weg zu gehen. Der Junge wurde wie ein geprügelter Hund, wenn der Arzt da war, und das konnte der nicht aushalten. Will erinnerte sich nicht an seine Krankheit und daran, was vorgefallen war; gleichwohl waren ihm Spuren davon geblieben, die Mechin nie auslöschen konnte. Von allen Kindern, die er gerettet hatte auf Vilm, war ihm dieser eine stämmige Junge das liebste. Doch er wollte nichts wissen von Mechin. Den Will hatte Mechin verloren. Und Will hatte mehr verloren ...
Mechin war sich sicher, dass er das Richtige getan hatte. Will wäre von der Krankheit unweigerlich erstickt worden. Mechin hatte das Vernünftigste getan. Und doch konnte er es sich nicht verzeihen. Der Arzt wachte nachts schwitzend auf und begann zu überlegen, wie er anders hätte handeln können. Ergebnislos, wie konnte es anders sein. Und es endete immer mit Kopfschmerzen, und es gab
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