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Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition)

Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition)

Titel: Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Kruschel
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glühende Schlucht hinab. Mit einem solchen Spatel begann Mechin, sich zwischen den aufeinandergepressten Zähnen des Jungen vorzuarbeiten. An diesem Punkt angelangt, passierte ihm der Fehler, den er hatte vermeiden wollen. Er wurde zornig. Nicht auf die Eltern oder auf sich selbst, nein. Er fing an, Wut auf Will zu haben. Das war falsch, ganz falsch. Das Kind spürte das sofort und begann, noch verzweifelter zu kämpfen. Mechin kam mit dem Spatel nicht weit. Will schloss die Augen und biss mit kleinen spitzen Schreien um sich. Er machte einen wilden Wust Splitter aus dem Spatel, stach sich Stücke davon in die Lippen, die heftig zu bluten begannen. Er versuchte, den Doktor in die Hand zu beißen, und erwischte dabei die eigene Zunge. Mechin bezweifelte, dass der Junge das spürte. Er hatte ein Tier vor sich, rasend. Und genauso hochgejagt waren seine eigenen Nerven. Er war fest entschlossen, in den verdammten kleinen Hals hineinzusehen, koste es, was es wolle. Das dachte Mechin in diesem Augenblick, so schlimm, wie es ist: Koste es, was es wolle. Ich sehe dem kleinen Dreckskerl jetzt in den verdammten Schlund. Völlig vergessen, dass er da ein Kind vor sich hatte, ein kleines, vor Angst halb besinnungsloses Kind. Er hätte warten können oder später wiederkommen. Aber er war wütend. Und er hatte Fälle erlebt, in denen es wenige Stunden Verspätung gegeben hatte, die Eltern nicht sofort gekommen waren oder Mechin nicht schnell erreichbar war, weil die Familie im Gebirge unterwegs war. Er hatte erlebt, wie man Kinder blau im Gesicht, heiß und tot zu ihm geschleppt hatte. Einmal hatte er so einen längst zusammengebrochenen Kreislauf wieder in Gang gesetzt. Die kritische Zeit freilich war überschritten gewesen, und das Kind hatte wochenlang im Koma gelegen, ehe es schließlich an Lungenentzündung einging. Gute Gründe also fortzufahren. Gute Gründe. Es war nicht anzunehmen, dass Will eine oder mehrere Stunden später anders auf den Doktor reagiert hätte. Sehr gute Gründe also.
    Das waren erwachsene, hiebfeste und stichfeste Vernunftgründe.
    Mechin allerdings wurde in diesem Augenblick wütend. Er zitterte innerlich, wenn seine Hände auch ruhig waren. Er fühlte Kälte in ihnen und Blässe auf seinem Gesicht. Er wünschte sich die dicken Muskeln eines Karnesen. Er sah zum Fürchten aus; Carl Senior starrte ihn entsetzt an. Es kochte im ach so guten Onkel Doktor, und das musste hinaus, es war wie ein Stau, der sich Bahn brach und herauswollte. Das hatte mehr mit Mechin zu tun als mit Will. Es war Aggression, die er an dem Kind auslassen musste. Mit besten Absichten natürlich. Der Arzt wäre in diesem Augenblick imstande gewesen, den kleinen Kerl zu schlagen, damit er den Mund aufmache – das fiel ihm ein und stand ihm als lebhaftes Bild vor Augen, und bei der Vorstellung spürte er ein wohliges Kribbeln in seinem Inneren, das ihn im Nachhinein tief erschreckte, und noch Jahre und Jahrzehnte später schämte er sich, wenn er sich daran erinnerte, dass er in diesem Moment einen Steifen bekommen hatte, der sich hart an dem rauen Stoff seiner Hose rieb.
    Mechin ergriff einen metallenen Spatel. Damit bezwang er die blutverschmierten Lippen des Jungen, besiegte brutal und ohne Pause einen Zahn nach dem anderen, und mit letzter barbarischer Kraftanstrengung brachte er die Kiefermuskeln und das zarte Genick Wills zum Nachgeben. Wie das Kind dabei zappelte und sich wehrte, würgte und den Doktor zu treten versuchte, war vollkommen gleichgültig. Das Metall, kühl und unbeteiligt funkelnd, glitt tief in den Rachen. Der Arzt drückte rücksichtslos die Zungenwurzel aus dem Weg und hatte endlich Einblick in den Hals. Seine Stimme klang nach Triumph, als er den Befund vermelden konnte: Da war das weißlich-gelbe Ausscheidungsprodukt der fremden Erreger, da war das Krankheitszeichen auf den Mandeln und tief im Rachen und wohl auch in der Luftröhre. Befriedigt warf Mechin den kostbaren Metallspatel weg und rieb sich die Hände.
    Will hatte die Pseudo-Diphtherie. Er hatte sie seit Tagen. Hatte sie verheimlicht, sich kaum etwas anmerken lassen. Er hatte weiter gespielt und sich gezwungen, fröhlich und gesund auszusehen, bis ihn steigendes Fieber verriet. Er hatte sich gewehrt wie ein Ertrinkender, weil er wusste, dass den Kindern, die sich vom Arzt in den Hals sehen lassen, dieser Hals später zerschnitten wird. Er hatte sich tapfer gewehrt und verloren, gegen Mechin. Sein hübsches Gesicht verzerrte sich, seine Augen

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