Vilm 01. Der Regenplanet (German Edition)
keinen Ausweg, und es ließ ihn nicht in Ruhe, und er wusste nicht weshalb. Diese Geschichte war bitter. Umso bitterer, als sich wenige Monate später herausstellte, dass es nur wenige Kilometer entfernt südlich am Rand der OOSTERBRIJK-Ruinen eine zweite, größere Gruppe von Überlebenden gab. Dazwischen lag ein richtiger Höhenzug aus Schrott, der die beiden Gruppen isoliert hatte. Reiner Zufall, dass sich eines Tages ein paar Leute über den Weg liefen, denen die jeweils anderen ein bisschen seltsam vorkamen. Erst nach einigen Minuten stellte sich heraus, dass man sich zuletzt an Bord eines Weltenkreuzers gesehen hatte. Die etwas bessergestellten Einwohner der anderen Siedlung hatten nicht nur eine einsame überlebende Zentralierin, die allerdings den Arm mit ihren elektronischen Installationen eingebüßt hatte, sie verfügten auch über ein zwar unvollständiges, aber immerhin funktionierendes Medlabor. Dort war nur ein einziges Kind an der Pseudo-Diphtherie gestorben. Mechin wurde noch an dem Tag, an dem die beiden Gruppen einander entdeckt hatten, in das Lager der anderen gebracht, um das Medlabor zu sehen. Die Maschine war mehr schlecht als recht zusammengestoppelt, und sie würde eher früher als später den Geist aufgeben. Er brachte den Leuten die schlechte Nachricht vorsichtig und schonend bei, allerdings wussten die das längst.
Es war wie ein bisschen Rettung, als nach all der Zeit des Ewiggleichen endlich andere Gesichter auftauchten. Natürlich war Mechin genauso auf dem verregneten Planeten gefangen wie vorher, allein das Gefängnis schien plötzlich größer geworden zu sein. Will war das Erscheinen der Neuen nur recht. Er konnte nun einen deutlich größeren Abstand zwischen sich und den Arzt legen. In der Siedlung, wo Mechin weilte, war Will zufällig gerade nicht. Das funktionierte fast immer. Der Arzt akzeptierte das; was blieb ihm übrig. Er pendelte oft zwischen den beiden Siedlungen hin und her, die jetzt endlich Namen bekamen. Die Rede war von Vilm Village und vom Alten Dorf, und später, als eine weitere Siedlung gegründet wurde, hieß sie vom ersten Tag an nur das Dritte Dorf. Manchmal stellte Mechin sich vor, Will wäre, als erwachsener Mann, Bürgermeister der Hauptstadt, Vilm Village. Will war so etwas zuzutrauen. Mechin sah dann das Gesicht des Jungen vor sich, etliche Jahre älter. Will hatte diese Sorte Gesicht, die man selbst dann auf Babyfotos wiedererkennt, wenn der Abgebildete längst ein Greis ist.
Und als im Lauf der Jahre ein eigenes vilmsches Nachrichtennetz entstand, sah Mechin gelegentlich seinen Patienten wieder. Der kleine Wildfang mauserte sich und gewann früh eine Menge Einfluss unter seinen Altersgenossen. Da war es unvermeidlich, dass Will immer öfter im Blickfeld des Arztes auftauchte. Augenblicke, in denen sich Mechin beinahe verzeihen konnte. Will sah glücklich aus, zufrieden, selbstbewusst, kräftig und kerngesund. Und doch würde er augenblicklich verschwinden und alles im Stich lassen – sogar die Regendrachen –, wenn der Doktor auftauchte. In dieser Beziehung war Mechin völlig sicher. Will würde es spüren.
11. Regendrachen sterben, wenn die Sonne scheint
Er brauchte keinen Wecker, wenn es so weit war. Etwas in ihm spürte die Anzeichen für das auf, was nur die Kinder einen sonnigen Morgen nennen würden – die Form der Wolken, feine Farbunterschiede in dem, was die Erwachsenen das ewige Grau des Himmels nannten, der Geruch des Windes, das Wippen der Gräser und das Verhalten der Tiere ... Er nahm das alles wahr, und ein Teil von ihm, den er nicht beherrschte, fügte die Einzelheiten zur Erwartung zusammen. Und so erwachte Will schließlich, wenn das erste Morgenlicht den Himmel spärlich erhellte. Dann lag er da, sein Herz schlug heftig. Er lauschte; keiner der anderen war wach geworden. Das wäre nicht gut, er wollte das für sich allein haben. Leise, ganz leise zog er den Verschluss des Bettes auf und schlug es beiseite. Augenblicklich war die Wärme verschwunden. Es war nachts immer kalt.
Will war es nicht anders gewohnt. Außen am Haus rann die ganze Nacht lang der eiskalte Regen herab, und so kühlte das Zimmer, das eine lange Außenwand aus Metall hatte, rasch aus. Der Junge stand auf. Als er mit den Füßen den klammen Fußboden berührte, lief eine Gänsehaut über seinen nackten Körper. Im Dunkeln ertastete er seine Sachen, raffte sie unterm Arm zusammen und schlich sich, immer noch barfuß, aus dem Zimmer. Carl junior, der große
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