Violas bewegtes Leben
vorzuführen ist etwas anderes, als ihn in einem Kinosaal zu sehen, per Beamer auf eine riesige Leinwand projiziert. Bestimmt ist die Bildqualität total mies, aber das wird allen so gehen. In den Regeln stand ausdrücklich nur Video/HDV. Wir durften keinen 16mm-Film verwenden, was echt toll gewesen wäre. Vielleicht nächstes Mal.
Jared und ich haben beschlossen, uns unsere Filme vorhernicht zu zeigen. Na ja, eigentlich war es sein Wunsch. Ich hätte gerne gewusst, wie er meinen Film findet, aber er meinte, wir dürften uns keine Ratschläge geben, weil wir an einem Wettbewerb teilnähmen und das nicht richtig sei. Zwar steht in den Wettbewerbsregeln nichts davon, dass man seinen Film anderen Teilnehmern nicht zeigen darf, aber ich wollte Jared nicht widersprechen, weil er so entschieden klang. Ich wollte ihn nicht zwingen , meinen Film zu sehen.
Wir hatten in den letzten Wochen kaum Zeit, per SMS oder Mail zu kommunizieren, weil wir beide bis zur letzten Sekunde an unseren Filmen gearbeit haben. Ich habe ihn vermisst, aber es ist seltsam: Wenn man einen Film abgeben muss, ist auf einmal alles, auch ein süßer Freund, nur zweitrangig.
Ich stehe in der Schlange am Schalter für die Buchstaben A-G und male mir die schlimmsten Horrorszenarien aus, zum Beispiel, dass die Leute scharenweise den Saal verlassen oder meinen Film ausbuhen oder beides, als ich jemanden »Hey, Viola« sagen höre.
Ich drehe mich um. Jared steht mit ein paar Jungs von der GSA vor mir. Es kommt mir vor, als wäre er seit Weihnachten zehn Zentimeter gewachsen, und er wirkt älter mit der Krawatte und dem Jackett. Er umarmt mich. »Wie geht’s dir?«
»Ich bin nervös. Und dir?«
»Na ja, es kommt, wie es kommt.« Er lächelt. Aber es ist kein freundliches Lächeln wie sonst bei ihm. Dieses Lächeln wirkt angestrengt.
»Wahrscheinlich.« Wie lahm, aber ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Zum ersten Mal weiß ich nicht, was ich zu Jared Spencer sagen soll, und das ist gelinde gesagt ziemlich deprimierend.
Er senkt die Stimme. »Tut mir leid, dass ich so beschäftigt war.«
»Schon gut. Bei mir war auch ganz schön viel los.«
»Ja. Ich hatte viel um die Ohren«, sagt er und schaut an mir vorbei in die Ferne.
»Ähm, in ein paar Wochen findet am Saint Mary’s College wieder eine Veranstaltung statt. Susie Essman gastiert mit einer Ein-Frau-Comedy-Show.«
»Cool.«
»Die Eintrittskarten sind ziemlich begehrt«, erkläre ich ihm. »Ich schicke dir eine Mail mit dem Termin.«
»Super. Bis später dann.«
Jared stellt sich wieder in die Warteschlange vor den Buchstaben M – Z und unterhält sich mit seinem Mentor. Ich habe ein komisches Gefühl. Er war gar nicht so herzlich, wie man es von seinem Freund erwarten würde; er war eher distanziert. Vielleicht ist er noch nervöser als ich.
»Er ist nervös«, flüstert Marisol, die meine Gedanken gelesen hat. Ich war so abgelenkt, dass ich gar nicht bemerkt habe, dass die Mädels zu mir gekommen sind.
»Nimm’s nicht persönlich«, sagt Suzanne. »In dieser Hinsicht sind Männer und Frauen einfach verschieden. Wir Frauen können kleinliches Konkurrenzdenken für unsere Beziehungen beiseiteschieben – Männer können das nicht. Es beeinträchtigt ihre Gefühle.«
»Das ist doch verrückt«, meint Romy. »Kann er keine Freundin haben und gleichzeitig an einem Filmwettbewerb teilnehmen?«
»Nein. Schaut. Ich find’s ja auch schrecklich, dass ich euch immer so schlechte Sachen über Jungs erzählen muss, aber esstimmt einfach. Meine Brüder sind auch so. Wenn sie sich auf etwas konzentrieren, einen Sportwettkampf oder eine Prüfung oder Geld sparen für eine Schrottmühle, ist es immer, als hätten sie ihre Gedanken wie einen Atomstrahl auf dieses eine Ziel gerichtet, bis sie es geschafft haben. Das ist typisch für Jungs. Jared macht so ein Gesicht, als ob er unbedingt gewinnen will. Und im Moment ist das für ihn wichtiger als seine Gefühle für Viola. Er konzentriert sich nur darauf.«
»Na ja …«, sage ich leise. »Geht mir ja auch so.« Ich richte mich auf und befestige mein Namensschild an meinem Pullover. »Ich bin auch hier, um zu gewinnen.«
Wir folgen der Schlange in den Saal. Ich schaue mich um. In einem Theater, in dem fünfhundert Zuschauer Platz haben, sitzen gerade mal fünfundsiebzig Leute. Was für eine Enttäuschung. Ich hatte mir natürlich vorgestellt, wie sich die Leute in einem riesigen Saal für die Premiere der May-McGlynn-Story drängen. Ich meine,
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