Violett ist erst der Anfang
hast du Piotr eine gescheuert.«
»Ich war überfordert«, verteidigte sich Jule. »Was hättest du denn an meiner Stelle gemacht? Jemand vernascht dich auf dem Küchentisch, du liegst da halb nackt und so halb in irgendwelchen Torten, stöhnst dich heiser, weißt gar nicht mehr, wo oben und unten ist vor lauter Prickeln, und dann kommt dieser Pfosten …«
»Und wirft uns raus, als hätten wir irgendwas angestellt«, sagte Ewa und schüttelte dabei wie schon so oft den Kopf. »Krass.«
Innerlich pflichtete Jule ihrer Freundin bei, empört über den Aufstand aus heiterem Himmel. Ein Drill wie bei der Bundeswehr. Unter den lauten Kommandos von Alicja und Piotr hatte sie es im Laufschritt gerade noch in ihre Klamotten und Schuhe geschafft, hatte sich ihre Handtasche gegriffen, dort instinktiv frische Unterwäsche, ihre Geldbörse und ihr iPhone reingestopft – und schon war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen. »Ich hätte so gern geduscht, verdammt!«
»Du riechst super, Jule«, versicherte ihr Ewa und gab ihr ein Küsschen auf die Wange. »Sag mal, willst du endlich mal was essen? Wäre dein Magen mein Hund, ey, ich hätte echt Schiss jetzt.«
»Lass ihn knurren. Knutschen?« Erwartungsvoll spitzte Jule die Lippen.
»Vorne an der Ecke ist übrigens ein Bäcker.«
Verflixt. Kopf oder Zahl, Bäcker oder Bogacz? Jule fuhr den Kussmund wieder ein. »Erst ein Croissant, und danach du. Deal?«
»Und was machen wir mit Alicjas Liste?«, fragte Ewa und zog aus ihrer Jackentasche einen karierten Zettel.
Jule zuckte mit den Schultern. »Am besten verbrennen?«
»Geht nicht.«
»Natürlich, Süße. Das ist Papier. Ein Feuerzeug treiben wir auf dem Kiez schon auf.«
»Ich hab sogar eines. Leider bin ich Trauzeugin.«
»Oh.« Jule schluckte. »Heißt?«
Mit einem Seufzen erhob sich Ewa von der Fußmatte. »Alicja bringt mich um, wenn ich sie hängenlasse. Somit arbeiten wir besser die einzelnen Punkte ab.«
»Unfassbar.« Auch Jule stand inzwischen und wischte sich mögliche Fusseln vom Po. »Da kanten sie uns raus, ohne freundliches Wort, aber mit To-Do-Liste und der Ansage: Macht euch nützlich, bis sieben seid ihr zurück.« Ein Volk mit Vollschatten, ich betone es gerne immer wieder.
»Komm Jule, du musst das verstehen. Alicja läuft die Zeit davon. Zwei Wochen, ey, sie braucht jede Unterstützung, die sie kriegen kann. Dieser Wisch sagt alles. Hingeschmiert wie sonst was. Ist nicht ihre Art. Die steht unter Volldampf, Mensch, wen wundert das? Es geht um ihre eigene Hochzeit.«
Der schönste Tag in unserem Leben wäre mich akut lieber. Jule rupfte Ewa den Zettel aus der Hand. »Na gut. Gib her. Bestimmt sind wir im Nu damit durch. Ist ja nur DinA-5 und … Halt!« Ihre Augen weiteten sich. »Doppelseitig beschrieben?«
Dank Alicjas Liste war der Traum von einem lauschigen Samstag nun komplett ruiniert. Jule behagte diese Nummer ganz und gar nicht. Eine polnische Hochzeit. Was lief da denn ab? Sollten Ewa und sie sich gleich durch Kleiderberge probieren, auf der Suche nach dem passenden Look für die Brautjungfern? Och, gern. Shoppen geht immer. Oder bekamen sie ein Fünf-Gänge-Menü serviert, in zehn Varianten, und mussten Probekoster spielen, Wodka als Verteiler dazwischen inklusive? Hurgx. Bei solchen Perversitäten wäre bei einer Schweitzer definitiv Schicht im Schacht. Doch hatte sie eine Wahl?
Somit zu Punkt Eins: Kai-Uwe Holzfeld. Mehr als diese harten Fakten stand da bedauerlicherweise nicht, nur nichtssagend seine Adresse. Hieß: Keine Ahnung, wie die Mission dort lautete, aber nach einem Kurzstudium der Straßenkarte, die Jule via iPhone im Netz für Ewa auftat, düsten sie einfach mal abenteuerlustig los. Jule kämpfte mit einem Déjà-vu. Unter ihrem Hintern vibrierte die klapprige Schrottkiste, und Ewa röhrte sie im ersten Gang über die vollen Großstadtstraßen. Immerhin ging der Scheibenwischer. Gequält wie eine Laborratte quietschte er über die Frontscheibe. Egal. Jule konnte in diesem Moment nichts erschüttern. Mit wachsender Glückseligkeit kaute sie an einer Pizzatasche. »Boah, bin ich froh, dass ich kein Croissant genommen habe. Nach diesem Tortenmist, ey, da ist dieses Teil hier göttlich.«
»Schön«, kam knapp zurück.
Jule warf einen Seitenblick auf ihre Freundin. Eine Hand krallte sich ums Lenkrad, die andere krampfte sich um den Schaltknüppel, während Ewa aufgekratzt im Sitz saß wie ein Formel-Eins-Pilot kurz vor einem waghalsigen Überholmanöver im alles
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