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Violett ist nicht das Ende

Violett ist nicht das Ende

Titel: Violett ist nicht das Ende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Hueller
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mehr, immer mehr, ein Strom, der sich nicht stoppen ließ. Nicht hier, nicht jetzt …
    »Lass es raus, ist okay, lass es raus.« Ewa sprach mit sanfter Stimme und sagte es immer wieder.
    Ihre warme Umarmung … So viel mehr als bloß ein Strohhalm im Gefühlsstrudel, in den Jule gerissen wurde, ohne Kontrolle, meilenweit entfernt von Disziplin und Selbstbeherrschung. Wie gerne wäre sie jetzt stark gewesen, wie immer, jetzt, in diesem Moment. Wie gerne hätte sie alles beiseite gewischt, abgetan, als wäre es unbedeutend. Nur ein lästiger Fussel auf einem Pulli, den man mal eben abzupfte, fallenließ, fertig. Aber es ging nicht, nicht mehr. Da waren diese Bilder im Kopf. Bilder aus einer anderen Zeit, mit einem Mal wieder gestochen scharf und erdrückend. Die Gedanken von damals, die Zweifel von damals, die Vorwürfe und diese fremden, verstörenden Gefühle, die so lange versteckt geschlummert hatten. Die dennoch niemals weg gewesen waren und nun mit voller Wucht an die Oberfläche drängten. Und da war Ewa. Jemand, der sie hielt, jetzt, in diesem Moment. Sie hielt, so lange, bis der Tränenstrom verebbte, der Schmerz schwächer wurde und die alte Fassung zurückkehrte. Langsam, ganz langsam. Jemand, der sie hielt, so lange und noch länger, bis sie wieder Boden fand, in sich.
    Verschämt wischte Jule sich die Tränen von den Wangen, putzte ihre Nase und rückte ab. Doch Ewa suchte sofort ihre Nähe, ihre Hand, ganz automatisch, ergriff sie und hielt sie fest umschlossen.
    »Ewa, ich hab noch nie … darüber …«
    »Du hast alles alleine durchgezogen, richtig? Klinik auch?«
    »Mit dem Taxi hin, OP-Hemd an, Vollnarkose, aufgewacht, bisschen rumgelegen, Wand angestarrt, abends mit dem Taxi zurück.«
    »Oh Jule, du …«, flüsterte Ewa, und ihre Wangen schimmerten kalkweiß. »Hast du dir wenigstens eine Auszeit genommen danach?«
    »Musste ich. Nach der OP, da darf man nicht gleich wieder, also, zwei Tage war ich raus.«
    »Nur zwei Tage?«
    »Ich hatte ja diese Schmerzmittel, das ging schon irgendwie, und mir wäre die Decke auf den Kopf gefallen, wenn ich noch länger … zu Hause, in dieser fremden Stadt … ich …«
    »Wie hast du es deinem Freund gesagt? Ich meine, wann? Am Telefon? An dem Tag, nach der Vorstellung?«
    »Als er zurück war.«
    »Was? Nicht dein Ernst! Du hast das ganze drei Wochen irgendwie alleine versucht zu stemmen?«
    »Ich konnte nicht anders.«
    »Meine Güte, Jule … Ey, du hättest Hilfe gebraucht, Unterstützung bei all der Scheiße. Ja verdammt, er war gerade im Ausland. Aber es war euer Kind. Ihr hätte zusammen heulen können, wenigstens das, und er hätte dir gesagt, dass er dich liebt, und dass …«
    »Er hat mir nachts … eine SMS geschickt.«
    »Was stand drin? Weißt du’s noch?«, fragte Ewa.
    Jule versuchte sich gequält an einem Lächeln. Als ob sie den Text dieser Nachricht jemals vergessen hätte oder könnte. »›Kaum weg, schon vermisst der Daddy seine Engel. Träumt schön, ihr fehlt mir unendlich. 1000 Küsse‹.«
    »Oh.«
    »›P.S. Schone dich, Jule. Du weißt, zu viel Action ist nicht gut für unseren Spatz‹.«
    »Oh Mist.«
    »›P.P.S. Was hältst du von Charlotte oder Constantin?‹«
    »Ich bring ihn um.«
    Der Satz bohrte sich wie ein Pfeil in Jule. Sie schluckte. Ewa war aufgesprungen und ihr Gesicht stand in Flammen, lodernd vor Zorn. Ihr Atem ging viel zu hektisch und Jule griff sofort nach ihrer Hand, drückte sie sanft.
    »Süße, ssscht, es ist okay.«
    »Gar nichts ist okay! « Ewa zerrte an Jules Hand. »Das ist so abgrundtief geschmacklos, der größte Schlag in die Fresse, den er dir noch verpassen konnte. Dieses Ar…«
    »Ssscht, wie gesagt, es ist okay.« Jule blieb ganz ruhig. »Er mochte diese Namen schon immer. Jetzt hat er eben mit seiner Sabine die zwei Kleinen, die er wollte, die …«
    »Er hat dich verletzt«, tobte Ewa weiter. »Er hat dich verlassen. Er hat dich vorher betrogen, Jule.«
    »Nein, ich ihn. Ich bin schuld, dass …«
    »Jule!« Anpfiff mit Nachdruck. »Ey, warum nimmst du den andauernd in Schutz? Ich kapier das nicht.«
    »Ssscht, Süße, hör mir zu.« Jule zog Ewa wieder zu sich auf den Boden und sah sie ernst an. »Es ist okay, weil … also … sogar mehr als okay, denn ich …« Sie verstummte. In ihrem Kopf puzzelte sich das Geständnis zusammen, von dem jedes Wort so bedrohlich knirschte wie ein Schritt auf dünnem Eis.
    »Was?«
    Jule schloss die Augen, zählte bis zehn. Wien. Ein Schwenk in die Küche

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