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Virtuelles Licht

Virtuelles Licht

Titel: Virtuelles Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Erst am Abend vorher hatte sie rausgefunden, wie man das Etui aufmachte; einen Finger hier, den Daumen da, und es sprang auf. Kein Haken oder so was, keine Feder. Weder ein Warenzeichen noch eine Patentnummer. Das Innere war wie schwarzes Wildleder, aber es gab unter dem Finger wie Schaumstoff nach.
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    Die Brille, die da drin wie in einem Nest lag. Groß und schwarz. Wie von diesem Orbison auf dem Poster an Skinners Wand, schwarz und weiß. Skinner sagte, wenn man ein Poster für alle Ewigkeit aufhängen wolle, müsse man Kondensmilch als Kleber benutzen. Die aus der Dose. Es gab nicht mehr viele Sachen in Dosen, aber Chevette wußte, was er meinte, und der merkwürdige Typ mit dem großen Gesicht und der dunklen Brille war fest an das weiß gestrichene
    Sperrholz von Skinners Wand gepappt.
    Sie nahm die Brille aus dem schwarzen Wildleder.
    Das Zeug kam sofort hoch und bildete wieder eine glatte Fläche.
    Das Ding machte sie nervös. Nicht bloß, weil sie es gestohlen hatte, sondern weil es zu schwer war. Viel zu schwer für eine Sonnenbrille, trotz der großen Bügel.
    Der Rahmen sah aus wie aus Graphit geschnitzt.
    Vielleicht stimmte das auch, dachte sie; um die
    Papierkerne im Rahmen ihres Fahrrads herum war
    ebenfalls Graphit, und es war von Asahi Engineering.
    Das Klappern des Spatels, als Skinner die Eier
    rührte.
    Sie setzte die Brille auf. Schwarz. Total
    undurchsichtig —
    »Katherine Hepburn«, sagte Skinner.
    Sie nahm sie ab. »Hm?«
    »Die hatte auch so 'ne große Brille.«
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    Sie nahm das Feuerzeug in die Hand, das er neben dem Coleman aufbewahrte, drückte darauf und hielt die Flamme vor ein Brillenglas. Nichts.
    »Wozu ist die gut? Zum Schweißen?« Er häufte ihre Portion Rührei auf ein Servierbrett mit dem Stempelaufdruck ›1952‹. Stellte es neben eine Gabel und ihren Becher mit schwarzem Kaffee.
    Sie legte die Brille auf den Tisch. »Ich seh nix da durch. Alles bloß schwarz.« Sie zog sich den Ahornstuhl heran, der keine Lehne mehr hatte, setzte sich hin und nahm die Gabel zur Hand. Sie aß ihr Rührei. Skinner setzte sich hin, aß seins und sah sie an. »Sowjetisch«, sagte er nach einem Schluck aus seinem Thermosbecher.
    »Hm?«
    »So haben sie damals in der alten Sowjetunion
    Sonnenbrillen gemacht. Hatten zwei Fabriken dafür, und die eine hat sie immer so gemacht. Haben die Läden immer weiter mit den Dingern beliefert, aber keiner hat sie gekauft; die Leute haben immer die von der anderen Fabrik gekauft. Lag an deren Verpackung.«
    »Die schwarzen Gläser sind aus 'ner Fabrik?«
    »In der Sowjetunion.«
    »Sind die bescheuert oder was?«
    »Ist nicht so einfach ... Wo hast du die her?«
    Sie schaute in ihren Kaffee. »Gefunden.« Sie nahm den Becher und trank.
    126
    »Arbeitest du heute?« Er zog sich hoch und stopfte das Vorderteil seines Hemdes in die Jeans. Die verrostete Schnalle seines alten Ledergürtels wurde von zusammengedrehten Papierstückchen gehalten.
    »Von mittags bis fünf.« Sie nahm die Brille und drehte sie hin und her. Sie war zu schwer für ihre Größe.
    »Ich muß jemand raufkommen lassen, der sich mal
    die Brennstoffzelle ansieht ...«
    »Fontaine?«
    Er antwortete nicht. Sie bettete die Brille in
    schwarzes Wildleder, schloß das Etui, stand auf und brachte das Geschirr zum Waschbecken. Warf einen Blick zurück zu dem Etui auf dem Tisch.
    Sie sollte das Ding lieber wegwerfen, dachte sie.
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Wenn Diplomatie versagt
    Rydell flog mit einem CalAir-Kipprotor von Burbank aus in den frühen Dienstagabend hinein. Der Typ in San Francisco hatte das Ticket drüben bezahlt; er sagte, sein Name sei Freddie. Kein Rückenlehnenvergnügen bei CalAir, und die Passagiere eindeutig zweitklassig.
    Schreiende Babys. Aber ein Fensterplatz. Unten das Lichtermeer durch den dünnen Schmierfilm vom Pomade eines früheren Passagiers: das Valley. Die türkisfarbene Leere ein paar übriggebliebener Pools mit Unterwasserbeleuchtung. Ein dumpfer Schmerz in seinem Arm.
    Er schloß die Augen. Sah seinen Vater am
    Küchenwaschbecken seines Wohnwagens in Florida,
    wo er ein Glas abwusch — der Tod in diesem
    Augenblick zweifellos bereits in ihm wachsend, eine feststehende Tatsache, eine Linie überschritten — und von seinem Bruder erzählte, Rydells Onkel, der drei Jahre jünger und fünf Jahre zuvor gestorben war.
    Der Onkel, den Rydell nicht gekannt hatte und der zu einem Stapel Fotos geworden war. Zu ein paar 128
    Sekunden in einem Minicamsucher. Der Rydell aus
    Afrika ein T-Shirt

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