fünf Stunden zurück, also würde sie jetzt noch schlafen. »Ich rufe sie heute Abend an.«
»Gut«, sagte Jeremy.
War das sarkastisch gemeint? Jeremy hatte keinen Grund, der Frau zu vergeben, die beinahe seine gesamte Karriere zerstört hätte. Ich sah ihn an. Er reckte sein Kinn mit einer Bestimmtheit in die Luft, die ich inzwischen gut kannte, und sein Blick war aufrichtig. Am liebsten hätte ich meine Hand auf seine Wange gelegt und ihn geküsst. Später.
»Findest du das wirklich?«
»Wirklich.«
Ich hatte immer noch den Geschmack der Erdbeermarmelade auf der Zunge, als Jeremy und ich zu Fuß nach Charminster gingen, um in einem Café dort unsere Mailboxen zu checken. (Gigi weigerte sich leidenschaftlich, einen Internet-Anschluss legen zu lassen, was ich einfach respektieren musste, obwohl es unglaublich Umstände machte.) Die Straße zu dem kleinen Städtchen war anderthalb Meilen lang. Ich war fast jeden Tag auf ihr unterwegs. Aber sie war so malerisch, dass mir das nichts ausmachte, nicht einmal nach einem Lauf. Die Äste der Bäume, die die Straße zu beiden Seiten säumten,waren lang und zierlich und die Blätter raschelten im Wind. Am Straßenrand wuchsen wilde Blumen. Jeremy und ich spazierten mit ineinander verschränkten Fingern händchenhaltend auf ihr entlang. Ab und zu hielten wir an und küssten uns. Zusammen mit ihm schien alles noch malerischer.
Gemmas Bäckerei und Café, meine gewöhnliche W-Lan-Quelle, war gerade geschäftig genug: Es war so viel Betrieb, dass wir nicht auffielen und uns trotzdem noch unterhalten konnten. Gemma machte mit ihrer offensichtlich erfolgreichen Geschäftsidee im Schaufenster Werbung. Neben den Backwaren lag ein Schild, auf dem stand:
KOSTENLOSER W-LAN-ANSCHLUSS, KÖSTLICHE BACKWAREN.
Die Mutter der Besitzerin war eine Freundin von Gigi und Gemma spendierte mir für gewöhnlich eine heiße Schokolade, wenn ich kam.
Als ich mit Jeremy im Schlepptau auftauchte, drückte sie ihn fast zu Tode und gab uns dann den Platz am Fenster, von dem aus man die große Kirche auf der anderen Straßenseite sehen konnte.
»Die Kirche da«, sagte ich, während ich meinen Laptop hervorholte. »Sie erinnert mich an die in der Chicagoer Innenstadt. Weißt du noch? Die hübsche mit dem Innenhof, in der Nähe vom Drake.«
Jeremy nahm sich eine Zeitung vom Stapel hinter ihm und setzte sich mir gegenüber. »Ich weiß, welche du meinst, aber diese Kirche da«, er deutete aus dem Fenster, »ist älter als ganz Amerika.«
Ich seufzte. »Natürlich ist sie das. Habe ich wirklich gerade gewagt, britische Architektur mit der Amerikas zu vergleichen? Wie dreist von mir.«
Er grinste und blätterte in der Zeitung, bis er das Kreuzworträtsel gefunden hatte.
Ich sah meine E-Mails durch. Werbung, Werbung, Werbung, löschen, löschen, löschen, aber dann sprang mir plötzlich eine Adresse ins Auge:
[email protected] . Diesen Namen kannte ichdoch! Meine Finger zitterten, als ich den Cursor auf die E-Mail schob und sie anklickte. Zwei Monate der schwer verdienten inneren Ausgeglichenheit verpufften im Nu.
Liebe Frau Bianchi,
die letzten zwei Wochen habe ich damit verbracht, ganz außer mir vor Wut zu sein. Heute Morgen ist es mir endlich gelungen, mich so weit zu beruhigen, dass ich mich hinsetzen und Ihnen diesen Brief schreiben kann. Ganz nebenbei: Ich hasse E-Mail. Ich empfinde ihre Formlosigkeit als beleidigend. Ich hätte mich telefonisch mit Ihnen in Verbindung gesetzt, wenn ich Ihre Telefonnummer wüsste oder persönlich mit Ihnen gesprochen, wenn ich gewusst hätte, wo Sie sich aufhalten. Beides ist mir nicht bekannt. Außerdem habe ich Angst, was ich Ihrer Mutter antun würde, falls ich auf sie träfe. So bleibt nur diese E-Mail.
Ihre kleine Nachricht verursachte einen ziemlich großen Sturm, aber ich bin mir sicher, das wissen Sie bereits. Hätte ich Ihnen sofort nach Ihrer großen Beichte geantwortet, wäre diese Nachricht sicherlich eine andere geworden. Wohl eher eine Art Hassbrief.
Mit Ihrer E-Mail haben Sie nämlich die Guarneri-Foundation in aller Öffentlichkeit blamiert und die Glaubwürdigkeit der gesamten klassischen Musikindustrie infrage gestellt. Der Skandal machte auf der ganzen Welt Schlagzeilen.
Wie dem auch sei. Wie ich bereits sagte, bin ich inzwischen weniger wütend. Obwohl ich für gewöhnlich keine Komplimente mache, sage in der Regel, was gesagt werden muss. Daher: Dankeschön. Eine Tapferkeit wie die Ihre findet man selten.
Ich weiß