Virtuosity - Liebe um jeden Preis
zerquetschten Finger.
Mir blieb die Luft weg. Er rollte von mir herunter und zog dabei die Violine und meinen Arm zurück durch das Geländer. Mit seiner anderen Hand fasste er die Strad und ließ dann endlichmeine Finger los. Ich konnte mich nicht aufrichten, mir fehlte die Kraft dazu, also blieb ich auf dem Rücken liegen und starrte in den Nachthimmel.
»Bist du verrückt geworden?«, schrie er mich an, kam auf die Knie und starrte auf mich herab.
War ich das? Mein Körper schmerzte, aber sonst spürte ich nichts.
»Vielleicht«, flüsterte ich.
Er keuchte auf, immer noch außer Atem, und lehnte sich zurück auf die Fersen. »Ich bin reingekommen und hab dich da draußen auf dem Balkon gesehen. Ich dachte, du wolltest … du weißt schon … dich umbringen.« Er warf einen Blick über das Geländer, als wolle er sich davon überzeugen, dass es wirklich hoch genug gewesen wäre.
Ich schüttelte langsam den Kopf. »Das war mir nicht mal in den Sinn gekommen.«
»War es deine Mom?«
Ich nickte. »Du hast also meine E-Mail gelesen.«
»Ja. Ich war im Lavazza, hatte gerade meinen vierten Espresso bestellt und dachte über eine Karriere als Pokerspieler im Internet nach, als sie aufgetaucht ist.«
»Hasst du mich jetzt?«
Er hielt inne. Dann schüttelte er den Kopf.
»Der Beton ist eiskalt.«
»Setz dich doch hin«, schlug er vor.
Mir fehlte die Energie.
»Oh Gott, Carmen. Ich kann nicht fassen, dass du beinahe deine Strad aus dem Drake geworfen hättest.« Er schüttelte wieder den Kopf und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
Der Klang einer Sirene heulte unter uns auf und entfernte sich langsam.
»Und was jetzt?«, wollte ich wissen.
»Keine Ahnung. Wir warten es ab, würde ich sagen. Ich fliege morgen nach Hause.«
»Aber …« Ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte. »Aber was ist mit dir?« Ich schniefte und blinzelte die Tränen zurück.
»Ich weiß es nicht, Carmen.« Er legte eine Hand auf meine Wange, dann auf meine Haare. »Du bist ziemlich geliefert. Liebst du Musik?«
Ich blickte auf meine Strad, die Jeremy sich fest unter den Arm geklemmt hatte.
»Mal abgesehen davon, dass du gerade eine Strad vom Balkon werfen wolltest, die eine Million Dollar wert ist, liebst du Musik?«, fragte er mich noch mal.
»Ja. Auf immer und ewig. Aber ich glaube nicht, dass ich mich von dieser Geschichte erholen kann.«
»Meinst du beruflich?«
»Nein, aber das stimmt natürlich auch. Es ist mehr, dass ich nicht weiß, ob ich es noch will.«
Er nickte. Er verstand mich.
»Du musst weg«, erklärte er. »Weg von hier. Weg von ihr.«
»Warum hasst du mich nicht? Ich habe dir alles verdorben.«
Er dachte einen Augenblick nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann es einfach nicht. Und es war ja gar nicht deine Schuld. Du hast das Richtige getan, Carmen.«
»Aber wohin soll ich denn jetzt?«
Er antwortete nicht. Es gab keine Antwort auf diese Frage.
Jeremy hielt mich die ganze Nacht in seinen Armen.
Zuerst hatte er mich auf seinen Schoß gezogen und wir hatten aneinandergeschmiegt auf dem Balkon gesessen. Er hatte die Arme um mich geschlungen und sein Kinn ruhte auf meinem Kopf. Aber als der Wind stärker wurde, konnten nicht einmal seine warmen Arme, die eng um meinen Brustkorb geschlungen waren, verhindern, dass ich zitterte. Also hob er mich hoch und trug mich rein. Trotz allem fühlte es sich genau richtig an. Er legte mich auf sein Bett, holte eine Decke aus dem Schrank, legte sich neben mich undzog die Decke über unsere Körper. Vielleicht war es der schrecklichste Tag meines Lebens gewesen, aber die Hitze seines Körpers, sein Atem an meinem Hals, der Druck seiner Hand, die auf meiner Hüfte ruhte – das alles war so gut wie perfekt.
Solange ich nicht über das Blutbad nachdachte, das ich angerichtet hatte (meine Karriere, meine Familie, mein ganzes Leben), war alles in Ordnung. Aber ich konnte meine Gedanken einfach nicht davon abbringen. Es war noch zu frisch. Alles war vorbei. Und meine Mutter … Ich wusste nicht, ob sie je wieder mit mir sprechen würde und ob ich das überhaupt wollte. Ich schloss die Augen und versuchte, an gar nichts zu denken. Ich musste die Gedanken verdrängen und mich stattdessen meinen Sinnen überlassen. Zum Beispiel dem Geruch von Jeremys Haut oder dem gleichmäßigen Atem, der seine Brust hob und senkte. Diese Eindrücke waren tröstend und real und sicher, aber meine Gedanken gehorchten mir einfach nicht. Sie kamen immer wieder auf das eine
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