Virtuosity - Liebe um jeden Preis
über in meine Rippen gegraben und ich nahm an, dass ich überall längliche Abdrücke hatte. War es erst gestern gewesen, dass ich es angezogen hatte? Eskam mir vor, als wäre seitdem eine ganze Woche vergangen. Jeremys Koffer lag am Fußende des Betts. Ich klappte den Deckel hoch und suchte zwischen den ordentlich aufgefalteten Klamotten nach etwas, das ich anziehen könnte. Plötzlich wurde mir klar, was der volle Koffer bedeutete. Ich wusste es bereits, hatte es aber verdrängt: Jeremy hatte gepackt. Er würde noch heute nach Hause fliegen. Ich klappte den Deckel wieder zu. Plötzlich drehte sich das Zimmer. Letzte Nacht hatte Jeremy gesagt, wir würden am nächsten Morgen damit beginnen, alles wieder in Ordnung zu bringen. Ich hatte mich sicher gefühlt, oder zumindest nicht allein. Ich hätte es besser wissen müssen. Er würde mich heute verlassen.
Der Schwindel wurde schlimmer und ich trat einen Schritt zurück. Mein Magen knurrte. Ich hatte seit wer-weiß-wie-lange nichts mehr gegessen.
Ich suchte gerade verzweifelt nach dem Schlüssel für die Minibar, als Jeremy hereinkam. Sein Gesicht war kalkweiß und seine Augen glasig. Er sah aus, als sei er verrückt geworden. Oder war das etwa unbändige Freude? Man sollte meinen, dass ich das unterscheiden könnte, aber die Intensität in seinem Blick hätte beides bedeuten können. In der einen Hand hielt er einen Lederkoffer, der Clark gehörte, mit der anderen umklammerte er sein Handy und ein kleines Büchlein.
Ich schluckte und wartete. Ich konnte einfach nichts fragen. Aber Jeremy sagte keinen Ton. Er stand bloß mitten im Zimmer und sah mich aus feurigen Augen an.
»Du warst also bei mir zu Hause?«
Er warf das kleine dunkelblaue Büchlein auf das Bett. Es war ein Reisepass. Mein Reisepass. »Ich dachte, ich könnte dich dazu überreden, mit mir nach England zu kommen«, sagte er schließlich mit zitternder Stimme.
»Ich hatte mir gedacht, wir könnten den Sommer gemeinsam bei Gigi verbringen. Aber auf dem Weg hierher habe ich einen Anruf bekommen.«
Er sah auf seine Hand hinunter, mit der er immer noch sein Handy fest umklammert hielt. Dann blickte er wieder zu mir auf. Ein angespanntes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Vom Präsidenten der Guarneri-Stiftung. Er hat sich bei mir entschuldigt und gesagt, dass sie sich mit allen Halbfinalisten in Verbindung setzen. Sie haben die Endausscheidung gestern Abend abgesagt, Carmen.«
Ich wartete auf mehr. Natürlich hatten sie die Endausscheidung abgesagt. Das war mir schon klar gewesen, als ich die E-Mail abgeschickt hatte. Jeremy musste es auch gewusst haben, als er sie gelesen hatte. Wieso flippte er jetzt deswegen aus?
»Ich nehme an, zwei bestochene Jurymitglieder und nur zwei Finalisten ließen ihnen keine andere Wahl. Sie wiederholen das Ganze.«
» Was? «
Jetzt verstand ich. Er war nicht böse oder verrückt geworden, er war ganz aus dem Häuschen vor Freude. Er schüttelte den Kopf, lachte, und warf sein Handy neben meinen Pass auf das Bett. Er lachte immer noch, strich sich die Haare aus den Augen und ließ dann die Hand auf dem Kopf ruhen.
Ich hielt mich am Kleiderschrank fest. Dass die Sache so ausgehen könnte, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hätte nicht zu träumen gewagt, dass es eine Wiedergutmachung geben könnte. Den Wettbewerb noch mal neu zu starten – das war perfekt. Aber unmöglich, oder etwa nicht? Es gab keine zweite Chance in der Musik. Wenn die Dinge nicht fair liefen, fand man sich einfach damit ab.
»Den ganzen Wettbewerb«, fuhr er fort, stellte den Koffer auf den Boden und ging im Zimmer auf und ab. »Sie fangen mit denselben Halbfinalisten nächste Woche von vorn an, aber mit neuen Jurymitgliedern.« Er strahlte über das ganze Gesicht. Plötzlich sprang er über den Couchtisch, der zwischen uns stand, griff nach mir und zog mich in eine Umarmung. »Carmen, wir bekommen eine zweite Chance«, flüsterte er mir ins Ohr.
Ich schloss die Augen. Ich wollte es so gern spüren. Wollte seine Freude fühlen und mein Herz in seine Umlaufbahn katapultieren. Aber es ging nicht. Ich hätte fliegen sollen, schluchzen, meine Arme um seine werfen und irgendetwas spüren müssen. Aber ich war wie versteinert.
Jeremys Umarmung lockerte sich. »Was ist denn?«
» Wir bekommen keine zweite Chance«, flüsterte ich. » Du bekommst sie.«
»Nein, Carmen, versteh doch. Sie werden dich nicht bestrafen. Sie wissen, dass du nichts damit zu tun hattest und lassen uns alle
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