Virus (German Edition)
war ihm nicht gefolgt. Na und? Umso
besser. Dann stellte sie ihm wenigstens keine dummen Fragen über das, was er
vorhatte.
–––––
Hagen begann hinter der Theke mit
der Auswertung der Wettscheine. Er kam nicht besonders schnell voran, weil er
immer wieder durch Bierbestellungen unterbrochen wurde, doch das störte ihn
wenig. Je später er die Ergebnisse präsentierte, desto länger würden seine
Gäste bei ihm bleiben müssen.
Langsam arbeitete er sich durch
den Wust an Wetten. Plötzlich stutzte er. Wieder und wieder las er, was auf dem
Schein, den er in seiner Hand hielt, stand, doch glauben mochte er es trotzdem
nicht. Es war unmöglich. Arm würde der Wettschein ihn nicht machen, soviel stand
fest, denn er belief sich nur auf einen einzigen Cent. Offensichtlich hatte der
Wetter es weit weniger auf einen großen Gewinn als vielmehr auf eine große Botschaft
angelegt. Anders konnte sich Hagen nicht erklären, was er las.
Handschriftlich stand da wie auf
allen Wettscheinen:
Nächstes Opfer: Marcel
Trébor
Beruf des Opfers:
Virologe
Mordart: Vergiftung
Mordzeit: später
Nachmittag
Doch Hagen wusste nicht recht,
was ihm unfassbarer erschien – die präzisen Angaben oder der Name dessen, der
den Wettschein eingereicht hatte. Denn unterschrieben war der Schein mit:
Pascal ‚Passe’ Hausmann.
57.
Sein eigenes Büro kam Wegmann
plötzlich fremd vor. Die Magnetwand hatte Herforth ihm gestohlen und die
zahlreichen alten Akten hatte er von seinem Schreibtisch entfernt, nachdem
Bruncke und Herforth seinen Bluff durchschaut hatten. Der Raum hatte das Flair
von Geschäftigkeit verloren, das Wegmann ihm über Jahre hinweg mit so viel
Hingabe verliehen hatte. Noch am Morgen des Vortags war es das Büro eines
gestresst wirkenden Chefs gewesen, doch irgendwie hatte es sich in das Zimmer
eines inkompetenten Angestellten verwandelt.
Wegmann saß hinter seinem
Schreibtisch, den Kopf in die Hände gestützt. Die Tür hatte er diesmal von
innen abgeschlossen, denn er wollte nicht gestört werden. Sein riesiger
Schreibtisch war nun fast leer. Außer der großen Schreibunterlage, die
gleichzeitig ein Kalender war, befanden sich nur ein Stiftehalter, ein Foto von
seiner Frau und seinen Kindern und ein kleiner Stapel mit Unterlagen zu dem aktuellen
Fall darauf, sorgfältig an die Ränder geräumt. Seinen Laptop hatte er bereits
eingepackt. Ansonsten lag lediglich seine Dienstwaffe auf dem Schreibtisch.
Mittig, direkt vor ihm.
Inzwischen war es nach neun Uhr
und draußen hatte die Dunkelheit den Tag verdrängt, doch Wegmann hatte kein
elektrisches Licht eingeschaltet. Driver hatte sich nicht bei ihm gemeldet, der
CIA-Mann hatte ihn gnadenlos ausgenutzt. Quid pro quo für den Arsch. Wegmann
hatte sein quo geliefert, doch Driver war das Quid schuldig geblieben. Seine
Zeit würde nicht mehr kommen. Nicht in diesem Leben.
Doch noch mehr beschäftigten ihn
die Vorwürfe, die Ashcroft ihm an den Kopf geschleudert hatte. War er wirklich
verantwortlich für den kritischen Zustand Trébors und die Nichtergreifung des
Täters? Hatte sein Stolz, sein übergroßes Ego nun endgültig den Tod eines
Menschen verschuldet, vielleicht sogar mehrerer Menschen, wenn der Mörder
weiter mordete?
Wieso hatte er sich nicht anhören
können, was Ashcroft und Petersen ihm zu sagen gehabt hatten? Die Antwort war
nicht schwer. Es war in der Tat sein Stolz gewesen, der ihm im Weg gestanden
hatte und der ihm immer noch im Weg stand. Selbstverständlich wusste er, dass
Ashcroft und Petersen nicht die Mörder waren. Er konnte einfach in ihre Zelle marschieren,
sie freilassen und sich ihre Geschichte anhören. Sie würden sie ihm gewiss immer
noch erzählen, denn die beiden schienen keinen ganz so krankhaften Stolz zu
empfinden. Ihnen schien die Aufklärung des Falls weit wichtiger als ihr Ego,
und er hätte sich ein Beispiel an ihnen nehmen sollen.
Wie war er nur so geworden? Hatte
die Macht ihn korrumpiert? Vielleicht war sie später als Faktor hinzugekommen,
doch seine Moralvorstellungen und seine Integrität hatte Wegmann abgelegt,
lange bevor er erstmals eine Stellung mit Macht bekleidet hatte. Er konnte sich
nicht mehr an den Zeitpunkt erinnern, nicht an ein spezielles auslösendes
Ereignis. Wahrscheinlich hatte es sich um einen Prozess gehandelt, um einen
schleichenden Prozess, an dessen Anfangspunkt ein integrer Beamter mit Hoffnungen
und klaren Wertvorstellungen losgezogen war, und an dessen Ende seit Jahren ein
korruptes,
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