Virus (German Edition)
müssen. Sie würde in der Tat
Hilfe brauchen, um das alles zu verarbeiten. Vielleicht würde Holger ihr ja
dabei helfen. Der hatte doch behauptet, darin geschult zu sein, traumatisierten
Personen psychologischen Beistand zu leisten. Plötzlich erschien ihr der
Gedanke, sich von Holger helfen zu lassen, gar nicht mehr so abwegig wie noch
am Tag zuvor.
Sie stellte fest, dass ihre
Gedanken wieder zu Holger drifteten und es gefiel ihr. In jedem Falle war es eine
willkommene Abwechslung von den quälenden Bildern der Agonie ihrer Kollegen.
„Wieso bist du Pfarrer geworden?”
Die Frage verließ ihre Lippen, ohne dass Debbie sich recht entsinnen konnte,
beabsichtigt zu haben, sie zu stellen.
„Weil ich geglaubt habe”,
antwortete Holger.
„Ich glaube auch”, erwiderte
Debbie. „Wenn jeder Gläubige Pfarrer werden würde, dann hätte die Kirche aber
keine Probleme mehr. Außerdem – warum bist du dann jetzt noch Pfarrer, wenn du
nicht mehr glaubst?”
„Ich habe nicht gesagt, es sei
der Glaube an Gott gewesen, der mich Pfarrer werden ließ.”
Debbie war verwirrt. „Welcher
Glaube war es denn?”
„Es war der Glaube an die Kirche”,
erwiderte Holger. „Ich glaube, dass die Kirche etwas Gutes ist, und wollte Teil
von ihr sein.”
„Wie kannst du glauben, dass die
Kirche etwas Gutes ist?” fragte Debbie konsterniert. Die Kirche war genau das,
woran sie nicht glaubte. „Nicht einmal Gott glaubt an die Kirchen. Sonst würde
er sie finanziell unterstützen und sie müssten nicht ständig betteln.”
„Natürlich glaubt Er nicht an die
Kirchen, Deborah”, sagte Holger mit leiser Stimme. „Weil es Ihn nicht gibt.”
„Wie kannst du an die Kirche
glauben? Die Kirchen sind nur zur eigenen Bereicherung vorhanden. Sie lügen,
sie betrügen, sie bekämpfen die Wissenschaften, und ihre Hände sind rot von
Blut.”
„Sie lügen zum Wohl der
Menschheit”, antwortete Holger.
Debbie setzte sich auf der Bank
auf, um Holger besser angucken zu können. Nahm er sie auf den Arm? Er klang
ernst und es gab auch nicht den geringsten Anlass, über dieses Thema ironisch
oder gar sarkastisch zu sprechen.
„Verarschst du mich gerade?”
fragte sie, um sicher zu gehen.
„Nein, Deborah”, erwiderte er.
„Nenn mich nicht Deborah.”
„Die Kirchen lügen den Menschen
vor, es gebe einen Gott, um sie Ehrfurcht und Demut zu lehren, Deborah”, fuhr
Holger unbeirrt fort. „Die Angst vor einer höheren Macht ist immer noch die
stärkste Motivation zu moralischem Handeln. Spendenaufforderungen der Kirchen
lehren die Menschen zu teilen, lehren die Menschen, sozialverantwortlich zu
handeln. Und das Geld, das die Kirchen durch Steuern und Spenden einnehmen,
nutzen sie mitnichten zur eigenen Bereicherung. Sie verwenden es für
gemeinnützige Zwecke, Entwicklungshilfe, Jugendarbeit und vieles mehr
dergleichen. Menschen brauchen Hoffnung und Führung. Beides kann die Kirche
ihnen geben. Dass sie den Menschen dafür vorlügen muss, es gebe einen Gott, ist
meiner Meinung nach ein Preis, der wert ist, gezahlt zu werden. Es ist die
große Lüge zum Wohl der Menschheit.”
Von dieser Seite hatte Debbie es
noch nie betrachtet. Für sie waren die Kirchen stets große Dämonen gewesen, die
die Gläubigkeit der Leute skrupellos ausnutzten. Natürlich hatten sich die
Kirchen in den letzten Jahrhunderten gewandelt und die Zeiten der Kreuzzüge,
der Templerverfolgung, der Hexenverbrennung und des Ablasshandels waren lange
vorbei. Konnte Holger Recht haben? Überwog der positive Effekt auf die
Gesellschaft über die negativen Konnotationen der Vergangenheit? Hatte Papst
Johannes Paul II nicht sogar die Urknall-Theorie und die Evolution offiziell
anerkannt?
„Wenn es das ist, woran du
glaubst, dann kannst du aber doch auch weiterhin ein guter Pfarrer sein”, sagte
sie schließlich. „Ich meine, auch ohne an Gott zu glauben.”
Von dieser Seite wiederum schien
Holger es noch nie betrachtet zu haben, denn ihre Aussage versetzte ihn in ein
tiefes Grübeln.
Hatte sie da etwa eine Goldader
getroffen? Hatte sie seinem Leben womöglich soeben wieder Sinn gegeben? Sie
hakte nicht weiter nach, sondern gab ihm Zeit, über ihren Vorschlag zu
reflektieren. Zeit, soviel er wollte. Sie würden sowieso in dieser Zelle
verschimmeln.
„Vielleicht”, antwortete er nach mehr
als einer Viertelstunde. Debbies Gedanken waren inzwischen weiter gewandert,
weit weg, und sie benötigte einige Momente, um sich ihrer letzten Worte zu
entsinnen – um sich
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