Virus (German Edition)
würde, ob Debbie womöglich richtig lag oder vollkommen daneben. Hier, in
der Enge der fensterlosen Zelle, konnte er das unmöglich beurteilen.
Seit zwei Jahren hatte er seine
Kirche nicht mehr außerhalb eines Gottesdienstes betreten. Früher hatte er oft
geglaubt, das Göttliche in ihr zu spüren. Etwas in der Kirche hatte ihm stets
Hoffnung gegeben. Heute wusste er, dass es nichts Göttliches gewesen sein
konnte, doch vielleicht würde er das Gefühl von Hoffnung trotzdem noch einmal
erlangen.
Seine Gedanken drehten sich im
Kreis und konnten zu keinem Schluss kommen, weil er beschlossen hatte, ihren
Schluss erst in der Kirche zu suchen. Wie viel Uhr mochte es sein? Acht? Neun?
Schwer zu sagen. Sein Mobiltelefon hatte man ihm abgenommen und eine Armbanduhr
trug er nicht.
Dann plötzlich hörte er Schritte
auf dem Gang und kurz darauf das schönste Geräusch der Welt: das Rasseln eines
Schlüssels im Schloss der Zellentür. Holger blickte zu Debbie hinüber und sah,
dass sie von dem Geräusch augenblicklich erwacht war. Sie lächelte ihn an und
ihm wurde warm.
Die Tür wurde geöffnet und zwei
uniformierte Beamte baten die beiden, ihnen zu folgen. Sie taten nichts lieber
als das. Die Beamten führten sie in die vierte Etage und in einen
Konferenzraum, in dem eine streng wirkende Frau an ihrem Laptop arbeitete. Die
Frau mochte Mitte bis Ende dreißig sein und stellte sich als Milla Herforth vom
BKA vor. Sie leite die Ermittlungen. Holger warf Debbie einen Blick zu, den
diese sofort erwiderte. Endlich kommt hier mal Kompetenz in den Laden.
Herforth versprühte wenig
Herzlichkeit, dafür aber umso mehr Professionalität. Trotzdem bot sie den
beiden Kaffee an, wenn auch mit ernstem statt freundlichem Tonfall. Immerhin.
Während die Kriminalistin einschenkte, nahmen Debbie und Holger am großen
Konferenztisch Platz und Holger blickte aus dem Fenster. Es war stockduster,
sie mussten also mindestens drei Stunden in der Zelle gehockt haben.
„Herr Metzger hat mir von Ihrer
Verhaftung berichtet, für die ich mich nur entschuldigen kann”, begann
Herforth, nachdem sie ebenfalls am Tisch Platz genommen hatte. Holger blickte
überrascht auf. Das klang doch schon mal recht vielversprechend für den Anfang
und es klang definitiv nicht danach, als würde es vom Verlauf des Verhörs abhängen,
ob sie noch einmal in ihre Zelle zurück mussten oder nicht. Er blickte zu
Debbie hinüber, die ihm gegenüber saß, und sah auch in ihrem Gesicht
Erleichterung.
„Es scheint da persönliche
Differenzen zwischen Ihnen und Hauptkommissar Wegmann zu geben, die mir nicht
bekannt sind”, sagte Herforth weiter, „doch ich werde dafür sorgen, dass er
seine Position nicht weiter zu Ihren Lasten ausnutzt. Ansonsten interessieren
mich ihre Animositäten nicht weiter.”
Sie machte eine kurze Pause und
ein Anflug von einem Lächeln zog über ihr Gesicht. Holger gewann mehr und mehr
das Gefühl, endlich der richtigen Person gegenüber zu sitzen. „Was mich aber
viel mehr interessiert”, fuhr die BKAlerin fort, „ist die Aussage von Herrn
Metzger, sie beide hätten interessante Theorien zu den Todesfällen. Darf ich
die hören?”
Holger atmete einmal tief durch.
Es war geschafft. Die Spitze der Hierarchie interessierte sich schlussendlich
für ihre Theorien. Er nickte Debbie zu, denn den epidemiologischen Teil sollte
sie besser erklären, und Debbie begann. Offenbar um es verständlicher zu machen,
folgte sie dem gleichen Weg, den die beiden bei der Entwicklung der Theorie
gegangen waren. Sie begann bei den Forschungsgebieten der ersten beiden Toten,
ging über deren Herkunft zu der Theorie der lokalen Infektionsketten und kam von
der Auswertung der Teilnehmerlisten über die korrekte Vorhersage des nächsten
Opfers schließlich zum einzigen verbleibenden potenziellen Opfer.
Holger nutzte die Tatsache, dass
Debbie das Reden übernahm, um Herforth zu beobachten. Sie wirkte von Anfang an
interessiert und hörte konzentriert zu, doch spätestens, als Debbie erwähnte,
man habe Trébor korrekt als Opfer antizipiert, klebte die Ermittlerin an ihren
Lippen. Als Debbie dann damit schloss, dass sie definitiv eines der drei
weiteren Opfer sein werde, wirkte Herforth sogar nahezu schockiert.
„Wir werden Sie natürlich
schützen”, versprach sie sofort. „Ein Personenschützer des BKA wird Sie von nun
an auf Schritt und Tritt begleiten.”
„Danke”, sagte Debbie und Holger
hatte selten mehr Erleichterung in einem einzigen Wort gehört.
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