Virus (German Edition)
zu erinnern, worauf Holger seine Antwort bezogen hatte.
Plötzlich hatte sie das Gefühl,
sie beide verbinde etwas, es gebe etwas, dem sie gemeinsam nachhingen. Sie
hatte seinem Leben wieder Sinn gegeben. Vielleicht würde er es nicht unumwunden
zugeben, doch sie wusste es. Und es gab ihr ein Gefühl von Nähe. Zum ersten Mal
seit ihrem etwas unglücklichen Aufeinandertreffen im Kongresszentrum war Debbie
nicht nur froh, jemanden zu haben, der ihr glaubte, der sie unterstützte, der
ihr half. Zum ersten Mal fühlte sie tiefe Dankbarkeit dafür, dass dieser Jemand
Holger war.
56.
Das Bild im ‚Dorfkrug’ hatte sich
in den letzten Stunden in keiner Weise geändert. Noch immer war er gerammelt
voll mit Globalisierungsgegnern, und die Stimmung hatte längst etwas von einer
Party angenommen.
Inzwischen war Passe betrunken,
doch das störte ihn wenig. Ganz im Gegenteil half es ihm sogar, seine Schmerzen
zu ertragen. Alkohol war der beste Schmerzkiller, den er kannte. Mit ein
bisschen Glück würden die Schmerzen nicht zurückkommen, und er wäre am nächsten
Tag wieder bereit, für die linke Sache zu kämpfen. Tod dem Neoliberalismus!
Doch umgekehrt proportional zur
Linderung seiner Schmerzen stieg seine Rage über Doras Besserwisserei. Immer wieder
hatte sie sich in seine Unterhaltungen eingeklinkt und ihm widersprochen.
Allerdings hatte sie nicht ständig an seinen Gesprächen teilgenommen, die
meiste Zeit hatte sie einfach dagesessen und in sich hinein gegrübelt. Passe
wusste nicht, was ihm bitterer aufstieß – ihre Einmischungen oder ihr Grübeln.
Einerseits konnte er nicht
fassen, wie seine eigene Freundin ihn wieder und wieder bloßzustellen
versuchte. Bei nahezu jedem Thema, das er angeschnitten hatte, hatte sie sich
früher oder später eingemischt, um ihm zu widersprechen. Immer wieder hatte sie
versucht, mit rationalen Argumenten seine Aussagen zu widerlegen oder ihn als
hirnlosen Radikalen darzustellen. Sie wollte einfach nicht verstehen, dass es
hier nicht um rationale Denkmodelle, sondern um Emotionen ging, um den Hass auf
die G8, um die Wut auf den Neoliberalismus, um den Zorn auf die Ungerechtigkeit
des Kapitalismus.
Andererseits aber empfand er die
Phasen, in denen sie grübelnd in ihren eigenen Gedanken versank, als fast noch
quälender, denn sie erinnerten ihn schmerzhaft daran, dass seine Freundin ein
Geheimnis vor ihm hatte, dass es etwas gab, was sie ihm nicht anvertrauen
wollte. Wieso nur? Obwohl sie seine Emotionen nicht verstand, liebte er sie
über alles, und jedes Mal, wenn er daran dachte, dass sie ein Geheimnis vor ihm
hatte, fühlte es sich an, als schnüre sich etwas um sein Herz. Daran konnte
selbst der Alkohol nichts ändern.
Hagen kehrte hinter die Theke
zurück, an der Passe immer noch auf einem Barhocker saß. Er hatte seinen Logenplatz
den ganzen Abend lang nicht aufgegeben und ihn nur zum Urinieren gelegentlich
verlassen.
Passe mochte den langhaarigen
Wirt, denn er zeigte großes Interesse für die linke Szene und gab den
Globalisierungsgegnern das Gefühl, bei ihm willkommen zu sein. Es gefiel Passe,
wie Hagen den unbekannten Sinnesgenossen, der durch die Morde an den Wissenschaftlern
eine nie dagewesene weltweite Aufmerksamkeit erzeugt hatte, heroisierte und
glorifizierte. Zudem wusste Hagen eine ganze Menge über die Morde und die
Motive des Mörders, was Gespräche mit ihm spannend machte.
Vor einigen Stunden, so gegen
halb sechs, hatte Hagen verkündet, es habe einen dritten Mord gegeben. Opfer
sei ein kanadischer Doktor der Virologie gewesen, der mit Wermut vergiftet
worden sei. Diese Information hatte Passe ein sanftes Lächeln abgerungen. Die
Auswertung der Wetten hatte Hagen für den späteren Abend angekündigt. Natürlich
war Passe sich der Tatsache bewusst, dass der Wirt das nur tat, um seine Gäste
länger in seinem Laden zu halten, doch das störte ihn wenig. Hagen war auf
Zack. Woher er seine Informationen hatte, war Passe schleierhaft, doch eigentlich
spielte die Quelle ja keine große Rolle. Hauptsache war, dass die Informationen
überhaupt zur Verfügung standen.
Viel wichtiger als die Frage nach
Hagens Informationsquelle war die Frage, wie es weitergehen sollte. Der nächste
Tag würde bereits der vorletzte des Gipfels sein. Passe hoffte, der Schwarze
Block würde sich endlich zeigen. Wo war er? Spätestens auf der Abschlussdemo in
Rostock würden die Mitglieder des Blocks die Stadt auseinandernehmen, da war
sich Passe sicher, und mit ein wenig Glück
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