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Virus (German Edition)

Virus (German Edition)

Titel: Virus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristian Isringhaus
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desillusioniertes Arschloch mit übergroßem Ego angekommen war.
    Noch nie in seinem Leben hatte
Wegmann sich so blamiert wie am Nachmittag bei der Pressekonferenz. Natürlich
war es unangenehm gewesen, sich den Reportern gegenüber in einem
Informationsdefizit wiederzufinden, doch trotz allem hätte er die Situation
souveräner meistern müssen. Er hätte einfach wiederholen können, dass er nicht
zu den laufenden Ermittlungen Stellung zu beziehen gedenke. Bumm, abgehakt.
Nächste Frage.
    Doch er hatte es nicht
wiederholt. Er hatte es vorgezogen, sich lächerlich zu machen. Wie viele
Menschen mochten seinen Auftritt mit verfolgt haben? Eine Milliarde? Vielleicht
zwei? Bestimmt würden die Bilder der Pressekonferenz um die ganze Welt gehen,
und auf der ganzen Welt würde man seine Inkompetenz belächeln.
    Der nächste all-inclusive Urlaub
mit der Familie in der Dominikanischen Republik? Man würde ihn kennen und
verlachen. Die lange erträumte Tour durch die Wälder Kanadas? Die Leute würden
wissen, dass er für den Tod ihres Landsmanns verantwortlich war.
    Konnte es wirklich so schlimm
sein? War es nicht viel wahrscheinlicher, dass die Leute ihn schnell wieder
vergaßen? War es erneut sein Ego, das ihn glauben machte, man werde sich
überall an ihn erinnern? Schwer zu sagen. Wenn man sich so an dieses
Selbstverständnis gewöhnt hatte, fiel es nicht leicht, aus einer egofreien,
objektiven Perspektive zu urteilen.
    Inzwischen glaubte Wegmann nicht
einmal mehr daran, dass Ashcroft die Reporterin informiert hatte. Die
Amerikanerin schien ernsthaft an der Aufklärung des Falls interessiert zu sein.
Welchen Grund hätte sie gehabt, dem Mörder durch Einbeziehung der Medien eine
noch größere Bühne zu bauen? Rache? Er sollte nicht von sich auf andere
schließen. Zwar hatte er tiefe Rachegelüste gegenüber Ashcroft, doch sie schien
weit über derart profanen Gefühlen zu stehen. Warum konnte er das nicht auch?
    Wie gerne hätte er noch einmal
etwas Gutes getan. Noch einmal und dann könnte Schluss sein. Er könnte Ashcroft
und Petersen freilassen, das wäre eine gute Tat. Wäre es das? Oder würde es
sich nicht vielmehr nur um das Geradebiegen einer schlechten Tat handeln?
    Wie auch immer, es machte keinen
Unterschied. Er würde es einfach nicht fertig bringen, die beiden aus ihrer
Zelle zu lassen. Sie hatten den riesigen Fehler begangen, seine Schwächen
aufzudecken, und das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Er konnte einfach
nicht. Die Schwächen, die sie aufgedeckt hatten, bezogen sich weit mehr auf
sein Ego als auf seine fachliche Kompetenz, und eben diese Schwächen waren es,
die es ihm nun unmöglich machten, die beiden aus ihrer Zelle zu lassen.
    Wieso hatten sie seine Fehler
aufdecken müssen? Wären sie aus einem anderen Grund aneinandergeraten, so hätte
er vergeben und verzeihen können. Nicht aber in diesem Fall. Die beiden
freizulassen war einfach keine Option, es stand nicht zur Debatte.
    Nein, es gab nichts Gutes mehr
für ihn zu tun. Ein reines Gewissen würde er sowieso nie wieder erlangen
können, seine Charakterstärke würde er nicht mehr zurückgewinnen, sein Ego
niemals ablegen. Er hatte verloren. Er hatte sich selbst verloren.
    Er griff nach dem gerahmten Bild,
das seine Frau und seine beiden Kinder im letzten Urlaub in der Türkei zeigte.
Sie wirkten glücklich. Natürlich, warum auch nicht? Sie wussten ja nicht, was
ihr Ehemann und Vater für ein charakterloses Schwein war. Sanft strich er über
die Gesichter seiner Lieben, dann legte er den Rahmen mit dem Foto nach unten
wieder auf den Tisch und nahm stattdessen seine Dienstwaffe in die Hand. Er
fühlte den kalten Stahl, das Gewicht des todbringenden Objekts.
    Es gab nichts Gutes mehr für ihn
zu tun. Außer dem einen.

58.
    Holger wusste nicht, wie lange
sie nun bereits in der Zelle saßen, er wusste lediglich, dass sein Gesäß
schmerzte. Es mussten Stunden gewesen sein. Stunden, in denen er und Debbie
kaum ein weiteres Wort gesprochen hatten. Debbies Einwand, er könne auch ohne
Glaube an Gott weiterhin ein guter Pfarrer sein, hatte ihn die ganze Zeit über
beschäftigt. Offenbar in der festen Absicht, ihn nicht bei seinen Gedanken
stören zu wollen, hatte Debbie ihn nicht weiter angesprochen und war irgendwann
auf ihrer Bank eingeschlafen.
    Holgers Gedanken führten ihn nur
zu einem einzigen Schluss: Sobald sie frei waren, würde er in seine Kirche
gehen, in der Hoffnung, etwas zu spüren, ein Gefühl, eine Empfindung, die ihm
sagen

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