Virus (German Edition)
nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Wirt mit
seinen Gästen beschäftigt war, einen Schritt hinter die Theke und sah sich um. Plötzlich
fing etwas ihre Aufmerksamkeit. Auf den ersten, kurzen Blick war es ihr
unmöglich, zu bewerten, ob es von Bedeutung war, doch da sie den Wirt zur Theke
zurückkehren sah, griff sie mit einer blitzschnellen Bewegung nach dem Objekt
und steckte es in ihre Jacketttasche.
„Hey, was machen Sie hinter
meiner Theke”, fuhr der Wirt sie an. Die seichte Flowerpower-Stimme, mit der
er sie vor wenigen Minuten noch abgewiesen hatte, war einem weit aggressiveren
Tonfall gewichen.
„Muss mich verlaufen haben”, gab
Herforth ihre Standardantwort für derartige Situationen. „Habe den Ausgang
gesucht.”
„Da ist die Tür”, sagte der Wirt
missmutig und wies mit seinem Arm zum Eingang.
Erst als sie die Mitte des
Marktplatzes erreicht und sich auf den gemauerten Rand des bronzenen Brunnens
gesetzt hatte, zog sie wieder aus ihrer Jacketttasche hervor, was sie soeben
hineingesteckt hatte. Es handelte sich um einen Zettel, einen einfachen Zettel
im Postkartenformat. Eingesteckt hatte sie ihn, weil sie Hausmanns Namen darauf
entdeckt hatte. Doch was sie nun außerdem las, war kaum zu fassen. Es handelte
sich um einen Wettschein, ausgefüllt von Pascal Hausmann. Alle Details des
dritten Anschlags waren korrekt getippt.
Was waren die Implikationen?
Hausmann musste definitiv etwas mit den Morden zu tun haben, soviel stand fest.
Aber war er wirklich der Mörder? Konnte ein Mörder wirklich so dumm sein, einen
so eindeutigen schriftlichen Beleg seiner Schuld auszustellen und sogar zu
unterschreiben? Hatte er sich womöglich im Kreise seiner Sinnesgenossen sicher
gefühlt? Immerhin heroisierten sie im ‚Dorfkrug’ den Mörder. Niemand würde ihn
verpfeifen, das hatte sie eben noch klar und deutlich erfahren. Aber war
Hausmann nicht sogar stolz auf seine Morde gewesen? Hatte er nicht mit ihnen angegeben?
Oder wollte er vielleicht einfach nur gefasst werden? Serienkiller hofften
häufig, gefasst zu werden, weil sie wussten, dass dies die einzige Möglichkeit
war, ihr krankhaftes Morden zu stoppen. Sie wussten, dass sie falsch handelten,
konnten ihrem inneren Trieb aber nicht widerstehen. Andererseits trug die
vorliegende Serie nicht die Züge eines triebgesteuerten Täters. Mit viel zu
viel Geduld hatte er die Morde vorbereitet, mit viel zu viel Rationalität hatte
er sie geplant.
Schwer einzuschätzen. Vielleicht
hatte der wahre Mörder auch einfach nur Hausmanns Unterschrift gefälscht, um
den Verdacht von sich selbst abzulenken.
Gedankenverloren starrte Herforth
ins Leere, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie erkannte, wer sich die ganze
Zeit in ihrem Blickfeld befand. Hausmanns Freundin, Dora Mazoni, saß alleine an
einem Tisch vor einer anderen Kneipe, der ‚Kleinen Taverne’. Herforth hatte sie
auf Fotos in seiner Akte gesehen. Sie erhob sich und ging zu ihr hinüber.
„Darf ich mich setzen?” fragte sie
freundlich, als sie zu Dora an den Tisch trat. Die junge Globalisierungsgegnerin
trug einen Ausdruck tiefer Melancholie auf ihrem hübschen und zarten
südeuropäischen Gesicht. Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern und Herforth
nahm Platz.
„Sie sind Dora Mazoni, habe ich
Recht?” fragte sie und gab sich dabei weiterhin alle Mühe, freundlich zu
klingen. Die junge Frau ihr gegenüber sah nicht so aus, als sei sie in der
Stimmung für sachliche Nüchternheit.
Langsam, kaum merklich nickte
Dora.
„Und Sie sind die Freundin von
Pascal Hausmann?”
Dora zeigte keine Reaktion,
sondern starrte nur mit leerem Blick über den Marktplatz.
„Mein Name ist Milla Herforth und
ich bin vom BKA”, stellte Herforth sich vor. „Ich leite die Mordermittlungen,
in deren Zug Ihr Freund festgenommen wurde.”
Sie brach ab, denn diesmal schien
sie eine Reaktion bei ihrem Gegenüber ausgelöst zu haben. Langsam, als sei die
Mühe kaum des Erfolges wert, hob Dora den Kopf und blickte sie an.
„Ex”, sagte sie schließlich.
„Wie bitte?” fragte Herforth
höflich nach.
„Er ist mein Ex-Freund, nicht
mein Freund.”
„Oh. Das tut mir leid.”
„Warum?”
„Nun ja.” Herforth fühlte sich
ein wenig unbehaglich. In diesem Terrain war sie nicht zu Hause. „Ist es nicht
immer schade, wenn eine Beziehung in die Brüche geht?”
„Auch wenn fünfzig Prozent der Beziehung
aus einem Mörder bestehen?”
Plötzlich verstand Herforth. Dora
hatte den anonymen Hinweis
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