Virus (German Edition)
anzurufen, falls ihr noch etwas einfalle, und verließ den mit
Pflanzen eingegrenzten Außenbewirtungsbereich der ‚Kleinen Taverne’.
93.
Das selbstgefällige Grinsen
wollte einfach nicht aus Wegmanns Gesicht verschwinden, als er auf der Landstraße
von Rostock nach Petersdamm fuhr. Er war sich durchaus der Tatsache bewusst,
dass er mit seiner infantilen Freude auf entgegenkommende Autofahrer einen
retardierten Eindruck machen musste, doch das störte ihn nicht. Viel zu groß
war der Genuss seines Sieges gegen Herforth, als dass er ihn hätte verbergen
können.
Besser hatte er sich seit Dekaden
nicht gefühlt. Die Sonne schien, der Sommer nahte, der Mörder war gefasst und
sein Krieg gegen Herforth gewonnen. Nun war die Zeit für persönliche Angelegenheiten
gekommen, endlich. Denn ein paar offene Rechnungen galt es noch zu begleichen.
Da war zum einen natürlich Tanja Franke, die ihn nun bereits zweimal
bloßgestellt hatte. Ebenfalls bezahlen würde Frankes Informant, bevor Wegmann
sich zuletzt und mit der größten Freude Ashcroft vornehmen würde.
Den Anfang würde Frankes
Informant machen. Wegmanns Leute hatten für ihn herausgefunden, dass die Reporterin
unmittelbar vor ihrer Frage bei der Pressekonferenz den Anschlag auf Trébor
betreffend einen Anruf erhalten hatte. Einen Anruf von der Rezeption des Hotels
‚Seeadler’.
Dieser kleine, dickliche,
jungenhafte Rezeptionist war es also gewesen, der ihm den ganzen Ärger für ein
paar Euro extra eingebrockt hatte. Er würde seinen Lohn dafür erhalten. Wegmann
würde ihn ihm höchstpersönlich auszahlen. Die Zeit der Rache war gekommen.
94.
Es war inzwischen nach drei Uhr
nachmittags und in weniger als einer Stunde würde Somniak seine Pressekonferenz
abhalten, doch die gigantische Rechenpower der CIA-Computer hatte bislang keine
Übereinstimmung des schmächtigen Journalisten mit irgendwo sonst aufgenommenen Personen
feststellen können.
In der Zwischenzeit hatten
subordinierte Mitarbeiter der CIA Sandwiches gebracht, denn Hotelangestellte
hatten keinen Zugang zur Kommandozentrale. Auf diese Weise musste Holger
zumindest nicht mit knurrendem Magen auf Ergebnisse warten. Auf einem
Großbildfernseher, der in einer Zimmerecke unter der Decke hing, liefen dauerhaft
Nachrichten vom Gipfel, so dass Holger nicht wirklich langweilig wurde, doch
das Problem war, dass langsam die Zeit knapp wurde. Er begann, sich zu fragen,
ob es noch andere Möglichkeiten gab, die Pressekonferenz zu unterbinden,
vielleicht aus einem vorgeschobenen Grund oder etwas Ähnlichem.
Schließlich traf Debbie ein und
berichtete mit kaum verhehltem Hass auf den Mörder von der Aggressivität des
mutierten Virus. Es war also zwingender denn je notwendig, den Täter zu fassen.
Respektive, wenn Holgers Theorie zutraf, die Täter.
Schnell klärte er Debbie über
seine Namensdeutung auf, woraufhin Driver ihr das Prozedere des Gesichtsabgleichprogramms
darlegte. In dem Moment erblickte Debbie die Sandwiches und stürzte sich
darauf. Nachdem Holger sie beim Frühstück beobachtet hatte, war er sich relativ
sicher gewesen, sie würde innerhalb der nächsten vierundzwanzig Tage keine
Nahrung mehr benötigen, doch offenbar hatte er damit falsch gelegen. Debbie
musste über einen gesunden Stoffwechsel verfügen, den man so manchem Amerikaner
durchaus wünschen würde.
„Ein Detail an Ihrer Apokalypse-Theorie
habe ich noch nicht zu hundert Prozent verstanden”, sagte Driver und deutete
erneut auf den Konferenztisch. Sie setzten sich, und wenige Augenblicke später
gesellte sich Debbie mit einem mit Sandwiches vollgeladenen Teller zu ihnen und
begann, ihren amerikanischen Appetit zu stillen. Holgers ohnehin vorhandene
Bewunderung für ihre makellose, sportliche Figur stieg weiter. Diese Frau war
ein Phänomen.
Schließlich, wenn auch ungern,
wandte er den Blick von ihr ab und erneut Driver zu. „Und das wäre?”
„Was hat ein Christ gegen den
Neoliberalismus?” fragte Driver. „Ich meine, gewiss ist die Ausbeutung der
Armen durch die Reichen nicht besonders christlich. Aber wo in der Bibel steht
ganz konkret, dass Neoliberalismus falsch ist?”
Holger musste schmunzeln.
Natürlich fand sich in der Bibel nirgendwo der Begriff ‚Neoliberalismus’. „Ich
gehe davon aus – und das entbehrt nicht gänzlich einer gewissen Ironie – dass
wir es hier mit einem Globalisierungsgegner im engsten Sinne zu tun haben. Die
Linken, die draußen vor Ihrer Tür demonstrieren, prangern die
Weitere Kostenlose Bücher