Virus (German Edition)
Implikationen der
Globalisierung an, besonders die wirtschaftlichen. Unser Killer aber hat eine
christliche Motivation. Er widersetzt sich dem Zusammenwachsen der Welt als
solchem.”
„Und wieso tut er das?” mischte
sich Debbie kauend ein. Holger fiel auf, dass er auch mit ihr bislang nicht
über die Motivation des Täters gesprochen hatte, obwohl sie ihm seit Langem
klar war.
„Die Globalisierung ist ein
Auflehnen gegen eine Strafe Gottes und somit ein Zeichen mangelnder Demut”,
erklärte Holger. „Laut Genesis, Kapitel elf, Vers eins, hatten zunächst alle
Menschen die gleiche Sprache. In einer Ebene im Land Schinar begannen sie,
einen Turm zu bauen, einen Turm bis zum Himmel. Gott stieg zur Erde hinab,
besah sich ihr Werk und erkannte, dass ihnen aufgrund der Tatsache, dass alle
Menschen ein einziges Volk bildeten und nur eine Sprache sprachen, nichts
unmöglich sein würde. Das bedeutete natürlich eine nicht akzeptable
Einschränkung Seiner Macht. Bedenkt, dass Gott eitel ist. Also gab Er jedem
Menschen eine andere Sprache, so dass niemand mehr den anderen verstand, und Er
verstreute sie über die ganze Erde. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel dürfte
euch aus der Sunday school bekannt vorkommen. Die Strafe Gottes, von der
hier erzählt wird, wurde später unter dem Begriff der babylonischen
Sprachverwirrung berühmt.”
„Verstehe”, sagte Debbie,
inzwischen mit ihrem zweiten Sandwich beschäftigt. „Gott ist sickig, dass die
Menschen ihm zu nahe kommen. Also teilt er sie in Völker und
Sprachgemeinschaften auf. Plötzlich aber sprechen alle Menschen auf der Erde
gut genug Englisch, um sich zu verständigen, während das Internet, Skype, die
Luftfahrtbranche oder die G8 die Welt wieder zusammenwachsen lassen.”
„Exakt”, erwiderte Holger. „Unser
Mörder mit seinem krankhaften religiösen Fundamentalismus jedoch scheint nicht
bereit, die Geschichte aus der Bibel zu interpretieren. Er nimmt sie wörtlich
und sieht dementsprechend in der Globalisierung das Umgehen einer göttlichen
Strafe.”
„Jetzt macht es auch für mich
Sinn”, nickte Driver.
„We got a hit!” rief plötzlich einer der
Agenten, die das Gesichtsabgleichsprogramm bedienten.
Holger sprang auf, sein Herz
raste. Ein Treffer? Gemeinsam mit Debbie und Driver rannte er zu dem Terminal,
an dem der Agent saß.
„Whatcha got?” fragte Driver.
Der Agent deutete auf einen der
sechs Monitore, die ihn umgaben. Zu sehen war ein Ausschnitt, ein Einzelbild
aus einer Sendung eines lokalen Fernsehsenders. Mehrere Bauarbeiter arbeiteten
an einem Rohbau, einer von ihnen war mit einem roten Rechteck umrahmt. Ebenso
zeigten die übrigen fünf Bildschirme Einzelbilder aus der gleichen Sendung, auf
der jeweils der gleiche Arbeiter markiert war. „Er ist ein wenig fülliger als
Somniak, trägt einen Schnäuzer und hat weit mehr Haare. Zudem hält er sich fast
nur im Hintergrund auf und wir haben keine perfekte Frontalansicht. Doch der
Computer hat eine achtundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit errechnet, dass
es sich um Somniak handelt.”
Viel mehr als äußerst rudimentäre
Ähnlichkeiten konnte Holger nicht zwischen dem Mann auf den Fotos und Somniak
ausmachen, doch er beschloss, dem Programm der CIA zu vertrauen.
„Herkunft des Materials?“ fragte
Driver knapp.
„Der NDR hat seinerzeit einen
Bericht über den Bau des ambitioniertesten Hotelprojekts
Mecklenburg-Vorpommerns gedreht – den Bau des ‚Seeadlers‘.“
„Somniak hat am Bau des
‚Seeadlers‘ mitgearbeitet?“ prustete Debbie überrascht hervor.
„Es sieht ganz so aus“, erwiderte
der Agent und wischte sich mit Speichel angereicherte Sandwichpartikel von der
Schulter.
„Als Bauarbeiter könnte er mit
Sicherheit hier und da was manipuliert haben“, dachte Holger laut. „Kleine
Vorrichtungen zur Erzeugung und Leitung großer Spannungsmengen hier, ein paar
verborgene Lautsprecher für apokalyptische Posaunentöne da, vielleicht sogar
ein kleiner Tunnel, um unbemerkt zum Hotel zu gelangen, dort. Wir kennen seine
Position nicht. Vielleicht war er sogar Vorarbeiter und konnte Hilfs-Willis für
seine Pläne einsetzen. Ohne den Gesamtzusammenhang zu kennen, hätten die nie
bemerkt, dass die Modifikationen, die sie vornahmen, nicht vorgesehen waren.“
„Selbst wenn er ohne Hilfe
gehandelt hat“, fügte Driver an. „Er hatte Zugang zur Baustelle und die
Möglichkeit, eigene Ideen umzusetzen. Die Sicherheitsstandards auf der
Baustelle dürften nicht über das
Weitere Kostenlose Bücher