Visby: Roman (German Edition)
sprang. Jens lehnte vorn am Geländer bei der Treppe, sie fasste ihn an der Hand und zog ihn mit sich ins Erdgeschoss. In den Seitenflur. In die Küche. Hinaus ins Freie.
»Carl hat nach dir gefragt.«
»Ah ja?« Sie legte den Kopf an seine Schulter. Ihr war ein wenig schwindelig von dem Aquavit, den sie nach dem Essen im Restaurant getrunken hatten; schwindelig, aber wohlig warm, es war sehr angenehm. Sie standen am Uferweg, vor ihnen das dunkle Meer, hinter ihnen die dunklen Häuser. Rechts huschte der Strahl des Leuchtturms durch den Dunst. »Funktioniert sein Internet wieder mal nicht?«
»Doch, doch, alles in Ordnung. Er war sehr beeindruckt.«
Sie lachte: Es war eine Sache von fünfzehn Minuten gewesen, wie Jens genau wusste; dass es länger als zwei Minuten gedauert hatte, lag nur daran, dass Carl den Zugang zu seinem Router irgendwann einmal mit einem Passwort geschützt, den Zettel mit dem Passwort dann aber verlegt hatte und auch erst sein halbes Büro durchsuchen musste, bevor er die CD mit dem Handbuch fand, das ihr verriet, wie man den Router auf Werkseinstellungen zurücksetzte.
»Deshalb lässt er dich jetzt auch fragen, ob du nicht Lust hättest, seinem Cousin bei einem IT -Problem zu helfen.«
So ein harmloser Satz. Doch der Tonfall war der des umsichtigen Jens von früher, der sich stets vorher überlegte, wie er etwas darstellen wollte.
»Seinem Cousin.«
»Ja.« Eine Pause. »In Värmland. Das ist an der norwegischen Grenze. Sein Cousin hat dort ein Hotel eröffnet. Eine Art Kreuzung zwischen Tagungshotel und Berghütte – jedenfalls stellt sich der Cousin wohl vor, dass reiche Geschäftsleute bei ihm ihre Konferenzen abhalten und zwischendurch wandern oder Ski fahren. Das Problem ist, dass man dieser Kundschaft natürlich modernste IT anbieten muss und der Cousin davon rein gar nichts versteht. Angeblich wollte ihm ein Freund alles kostenlos einrichten, aber der kann jetzt doch nicht aus Göteborg weg … Das alles kurz vor Beginn der Wintersaison. Also hat Carl mich gefragt, ob du vielleicht Lust auf ein paar Wochen in Värmland hättest. Geld gäbe es keins, nur Unterkunft und Verpflegung und Reisekosten. Die Landschaft soll aber traumhaft sein … «
Er schien überhaupt nicht mehr aufhören zu wollen. Als Nächstes würde er ihr das Wetter beschreiben. Seine Hand lag auf ihrer Schulter, als hätte er sie dort vergessen. Sie löste sich aus seinem Arm, drehte sich zu ihm um. Sofort verstummte er und sah sie an. Die nächste Straßenlaterne war weit entfernt, doch inzwischen kannte sie sein Gesicht, auch im Dunkeln.
»Du fährst nach Hause.«
»Ja. Übermorgen.«
Sie sah weg, hinaus aufs Wasser. Es tat weh. Erstaunlich weh. Dabei hatte sie natürlich damit gerechnet, es war immer nur eine Frage von Tagen gewesen; aber musste es denn schon heute sein? Wieso konnten sie die Zeit nicht noch etwas stillstehen lassen, sich noch etwas länger um die Fragen herumdrücken, für die sie keine Lösung wusste?
»Meine Tochter hat am Sonntag Geburtstag. Da möchte ich wieder in Köln sein.«
Fast hätte sie gelacht, trotz aller Traurigkeit. Es war so typisch für ihn, eine unanfechtbare Begründung vorweisen zu können. Die Tochter. Wie sollte sie da widersprechen. Am Ende stimmte es sogar, auch das wäre typisch für ihn: Er hatte immer die Fakten auf seiner Seite.
Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und lächelte ihn an. »Übermorgen.«
»Ja.« Er hielt inne und nahm sichtlich Anlauf. »Du solltest nicht allein hierbleiben.«
Auch da hatte er recht: Schon bei der Vorstellung wurde ihr kalt. Allein, während der Ort immer stiller und die Nächte immer länger wurden; allein inmitten von Gespenstern.
»Ich sollte nach Århus fahren. Ende November läuft meine Stelle aus. Ich muss mir etwas Neues suchen – und irgendwie sehen, ob aus dem laufenden Projekt noch etwas rauszuholen ist … «
»Dazu musst du aber nicht in Århus sein. Arbeiten kannst du überall. Deine Kollegen könnten dir das Material schicken, das du brauchst – du könntest auf einem der Rechner in dem Tagungshotel deine Programme installieren … « Und als sie schwieg: »Du brauchst noch eine Pause, Dhani. Nimm dir die Zeit. Jobsuche, Umzug, das wird alles anstrengend genug.«
»Aber Maria … «
»Ruf sie doch an. Frag sie einfach. Sie freut sich bestimmt, von dir zu hören.«
Schon wieder richtig. Maria würde sich freuen. Sie würde auch mit sich reden lassen. Denn in die alltäglichen Arbeitsabläufe
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