Visby: Roman (German Edition)
beide Verbrecher. Eglund und Nandin. Also ist es wohl völlig unwichtig, wer zuerst in das Geschäft eingestiegen ist.«
Sie fuhren nach Ljugarn zurück, aßen gebratene Nudeln mit Eiern und blieben bis tief in die Nacht zusammen. Liebten sich, dösten, stritten über Politik, lachten.
Sie verabredeten sich zum Joggen.
Sie besichtigten mittelalterliche Kirchen und steinzeitliche Grabanlagen.
Sie fuhren zum Labyrinth, spazierten umher, verloren sich aus den Augen und fanden sich wieder und gingen zu Fuß zum Waldhaus weiter, dessen Lage ihnen der Hotelbesitzer Carl beschrieben hatte. Das Haus stand leer. Jens weigerte sich einzubrechen.
Sie half Carl, sein neues Notebook mit dem Internet zu verbinden, und trank anschließend Tee mit ihm, während Jens von seinem Zimmer aus telefonierte. Carl verriet ihr, wer die Schlüssel zum Waldhaus besaß. Eine Frau, die eine Zeitlang auch im Waldhaus gelebt hatte. Ingela Irgendwas.
Der Name löste in ihrem Gedächtnis nicht die leiseste Resonanz aus.
Ein grauer Spätnachmittag; vielleicht war das der Grund, weshalb Ingelas Haus so trist wirkte. Ohne eigenen Charakter. Der Anstrich das gleiche dunkle Rot wie bei zwei Dritteln der Holzhäuser in Ljugarn.
Es dauerte lange, bis Ingela öffnete. Um die fünfzig, massig, verkniffen. Kein Lächeln, jedenfalls nicht für Fremde. Ihr Gesicht war teigig, und sie atmete schwer, eine Hand auf die Klinke gestützt, als hätten die wenigen Schritte bis zur Haustür sie angestrengt.
Hinter ihr ein Flur voller Gerüche.
Als Jens sie begrüßte, blickte sie misstrauisch; als er fragte, ob sie das Waldhaus besichtigen konnten, zeigte sich Ärger; als Jens dann erklärte, die junge Frau hier neben ihm habe als Kind im Waldhaus gelebt, ob Ingela sich nicht an sie erinnern könne – da zuckte es in ihrem Gesicht, als hätte sie Schmerzen, ihr Blick glitt von ihnen ab, hinaus in den dämmrigen Vorgarten, zur leeren Straße; als fände sie es unerträglich, diesem Eindringling in die Augen zu sehen, dieser lebendigen Person, die mitten in ihre Erinnerungen trampelte, mitten in die wundervollen Bilder von Indrasena und Adrian und Bengt, vor allem von Bengt. Sie schwieg so lange, dass Jens schließlich mit Nachdruck fragte: »Aber Sie haben doch die Schlüssel? Sie kümmern sich um das Haus? Ich weiß nicht, ob Ihnen das klar ist, aber die junge Frau ist Bengt Eglunds Tochter. Sie gehört zur Familie der Hausbesitzer. Sicher haben Sie nichts dagegen, wenn sie sich ihr Eigentum anschaut?« Da schrak sie auf, sah endlich doch auch ihr ins Gesicht, eine halbe Sekunde lang, und in dieser halben Sekunde sprang etwas auf sie über, das sie zunächst wie einen Geruch wahrnahm oder einen neuen Geschmack auf der Zunge und erst mit Verzögerung identifizierte: Angst.
Ingela war inzwischen in den Tiefen ihres Hausflurs verschwunden. Man hörte Knarren, Klappern, Stille. Plötzlich schweres Atmen, ganz nah, Ingela hielt Jens einen Schlüssel hin und erklärte in hartem Englisch, dass sie durch die Hintertür hineingehen sollten. »Geben Sie den Schlüssel anschließend Carl.«
»Danke.« Die Tür begann sich zu schließen. »Noch eine Frage«, sagte Jens. »Haben Sie in letzter Zeit von Adrian Barnes gehört? Er wird vermisst, und … «
»No«, unterbrach sie, ein Wort wie ein Schuss. »He was not here.«
Dann standen sie vor der geschlossenen Tür.
»Glaubst du , dass die tatsächlich im Waldhaus gelebt hat?«, fragte Jens im Gehen.
»Warum sollte sie es sonst behaupten?«
»Vielleicht hat sie nur davon geträumt. Vielleicht war sie eine von den Frauen, die Eglund in Visby unterrichtet hat.«
Und hatte sich immer gewünscht, ständig in seiner Nähe zu sein.
»Möglich ist alles. Ich kann mich jedenfalls nicht an sie erinnern. Aber vor zwanzig Jahren sah sie vermutlich auch anders aus.« Sie hakte sich bei Jens unter. »Lass uns morgen hinfahren, ja? Nicht mehr heute.«
Nicht in diesem trüben Dämmerlicht.
Dicke Lackfarben, direkt auf den Putz aufgetragen. Ein spiraliges Muster, das nach innen heller wurde und sicherlich irgendetwas symbolisierte. Bei Kerzenlicht sah es vielleicht sogar schön aus. Eindrucksvoll, wenn man direkt davor auf einem Sitzkissen hockte. Jetzt, im Stehen, im grauen Tageslicht, wirkte es …
Belanglos.
Kitschig.
»Sie muss das sorgfältig wieder freigekratzt haben,« sagte Jens.
»Wer? Ingela?«
»Die übrigen Wände sind tapeziert.«
In einem vergilbten Blümchenmuster. Carl hatte erzählt, dass die Eglunds
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