Visby: Roman (German Edition)
das Haus eine Zeitlang vermietet hatten. An Urlauber. Sicherlich war das Bild damals verdeckt. Sie ließ Jens’ Hand los, ging zu der Ecke, in der die bemalte Wand an eine tapezierte stieß, und strich mit dem Finger die Kante entlang. So sauber abgetrennt …
»Das ist so eine Art Mandala, oder?«, fragte Jens. Der Konstruktive. »So etwas habe ich schon in Büchern gesehen.«
Das Wort Mandala weckte immerhin vage Assoziationen. An Indien natürlich. Sie drehte sich einmal um sich selbst. Der Raum war groß. Abgesehen von dem Korb mit Brennholz neben dem Kamin gab es nur das Sitzkissen, eine Metallschale mit irgendwelchem Räucherwerk und eine Menge Kerzen.
Esoterikbedarf.
»Dann war das wohl das Meditationszimmer. Adrian hat es erwähnt. In dem Zimmer hat Indrasena eine Wand bemalt.«
Die bezaubernde Indrasena. Um die sich in diesem Haus offenbar alles gedreht hatte. Indrasena hatte die Wand bemalt, und danach hatten alle davor gesessen und das Bild angestarrt und sich eingeredet, es würde ihnen helfen, zu sich selbst zu finden. Sich aus dem Gefängnis ihrer Sehnsüchte zu befreien. Wie der weise Bengt es lehrte.
Bengt, der nach über zwanzig Jahren immer noch Indrasena nachweinte.
Der Nandin hasste. Bis heute.
Nandin, der Bengt hasste.
Adrian, der nicht verstand, wie es dazu kommen konnte.
Nur noch wenige Wochen, dann war es dreiundzwanzig Jahre her, und sie hatten sich immer noch nicht befreit. Sie gehorchten immer noch den Regeln des komplexen Systems, das sie hier erschaffen hatten. In diesem Haus. In diesem Zimmer. Während sie auf ihren Kissen hockten. Gisela und Indrasena, Eglund, Nandin und Adrian.
Ingela. Falls sie dazugehört hatte. Noch ein Schräubchen in der Elendsmaschine. Ingela, die das Bild freigekratzt hatte, die regelmäßig herkam, Kerzen anzündete, Räucherwerk abbrannte, Gespenster beschwor.
»Es ist zum Ersticken.« Sie drehte sich um und marschierte in die Eingangshalle hinaus, zur Haustür, aber natürlich war abgeschlossen, sie waren durch die Hintertür hereingekommen; sie ging zum Fenster neben der Tür, es klemmte und ließ sich nicht öffnen; plötzlich wünschte sie sich einen Stein, eine Axt: um die Scheibe einzuschlagen, um das ganze Haus zu Kleinholz zu hacken.
Schritte hinter ihr, Jens legte die Arme um sie. Sie lehnte sich an, atmete tief ein und aus. Er hielt sie fest. Wenigstens er war real.
»Komm, verschwinden wir«, sagte er. »Du musst dir das doch nicht antun.«
Sie hielt noch einen Moment seine Hände fest. »Gleich. Ich will kurz nach oben.«
Eine Treppe hinauf, zum Ende des Flurs, eine Leiter hinauf zum Dachboden. Halbdunkel und der scharfe Geruch von verwitterndem Holz. Eine eingebaute Kabine mit Wänden aus Sperrholz. Eine angelehnte Tür.
Staub auf den Dielen. Das kleine Fenster fast blind vor Dreck und mit Spinnweben verhangen. Tote Wespen, und dieser Geruch …
Der gleiche wie damals. Scharf, dass es in der Nase stach. Manchmal hatte es auch nach Räucherwerk gerochen.
Dort hatte es gestanden, dort auf dem Fußboden, neben der Kiste mit Treibholz und Muscheln. Ein Teller mit einem graubraunen Hütchen, das glühte; im Dunkeln glühte wie ein einzelnes Auge, denn Licht hatte es nie gegeben, irgendwann lege ich dir Strom hier herein: Adrians Stimme, aber irgendwann war nie gekommen.
Keine Lampe, keine Kerze – dafür war sie ja viel zu klein, am Ende steckst du noch deine Decke in Brand, schlaf doch einfach, es ist spät genug.
Und über ihr, an den Dachschrägen, die Schneemänner. Sie waren immer noch da. Eingestaubt, aber man sah sie noch grinsen. Hämisch grinsend schauten sie zu, während ihre Mutter ihr gute Nacht sagte, ihr noch einmal übers Haar strich, so leicht, dass man es kaum spürte, und ging; nickten sich zu und flüsterten, aber warteten noch ab, denn gleich würde Adrian kommen und eine Kerze mitbringen; lösten sich heimlich schon von den Wänden, während er seine Geschichten erzählte, und er merkte es nicht, denn sobald er hochschaute, hielten sie still; aber dann, wenn er fort war, wenn nur noch schwaches Abendlicht durch das Fenster hereinfiel, dann schwebten sie herab auf ihr Bett, ihre Decke, flüsterten und huschten umher; und sie musste still daliegen, damit sie ihr nichts taten; ganz still daliegen, während sie über ihr tanzten und den Raum in Besitz nahmen. Ganz still.
Raus. Sie knallte die Tür hinter sich zu, irgendetwas klirrte, sie lief zur Leiter, stieg hinunter bis zur dritten Sprosse von unten und
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