Visby: Roman (German Edition)
Immer sagte sie Dhana oder Dhani oder Dhan. Aber jetzt ließ sie alle vier Silben geradezu auf der Zunge zergehen. Und die Tante verzog augenblicklich den Mund. Diesen Namen hätte sie wohl auch gern im Keller versteckt.
»Das weiß ich nicht. Sie war schon weg, als ich herkam. Spazieren vielleicht.« Diesmal zeigte sie in eine bestimmte Richtung: die Straße entlang dorfauswärts. »Sie wollte abends noch mal bei uns vorbeischauen.« Eine deutliche Pause. »Wollt ihr bei uns auf sie warten?«
Selten habe ich eine Einladung gehört, die so wenig überzeugend klang. Doch Maria Kingsley strahlte, als könnte sie sich nichts Schöneres vorstellen. »Wie lieb von dir. Aber wir gehen sie besser suchen.«
»Wie du willst.« Doris Reinerts ging an mir vorbei die Treppe hinunter. Vor Maria Kingsley blieb sie kurz stehen. Es schien sie einigen Mut zu kosten. »Wir sehen uns dann sicher noch?«
»Aber natürlich!«
Als die Tante weg war, stiegen wir ins Auto und fuhren weiter. Die Dorfstraße endete nach einigen hundert Metern an einem Weidezaun. Links führte eine Fahrspur den Hang hinauf, doch sie war mit einem Schlagbaum versperrt. Schatten gab es nirgendwo. Ich fuhr auf den Grasstreifen neben der Straße und stellte den Motor ab.
»Ich rede erst mal allein mit ihr«, sagte Maria Kingsley.
Ich sah sie nur an. Das konnte ja wohl kaum ihr Ernst sein. »Haben Sie denn eine Ahnung, wo sie ist?«
»Ja. Wenn sie nicht schon wieder in Marsberg ist.«
Sie stieß die Tür auf, mühte sich aus dem Sitz und stapfte den Hang hinauf. Ich ließ ihr eine Minute Vorsprung, dann folgte ich ihr. Sie drehte sich nicht nach mir um. Ihr Rock war zerdrückt, die Bluse klebte ihr am breiten Rücken, die verschwitzten Haare standen im Nacken ab wie Stacheln, und ich hörte sie schnaufen. Aber sie marschierte den Hang hinauf wie ein Legionär auf dem Weg in die Schlacht. Ich will nicht behaupten, dass ich sie in mein Herz geschlossen hatte. Aber man musste sie schon respektieren.
Auf halber Höhe schwenkte sie am Waldrand nach rechts in einen Seitenweg ab. Hier oben war es etwas windiger und kühler. Wir passierten ein abgeerntetes Feld und eine Scheune. Maria Kingsley bog um einen flachen Bergrücken. Ich folgte ihr.
Und da saß sie. An einem Picknicktisch für Wanderer, die nackten Füße auf der Bank, die Unterarme auf den Knien, den Blick in weite Ferne gerichtet. Vielleicht lag es daran, dass wir ihretwegen neun Stunden lang quer durch Europa gefahren und in Ostwestfalen herumgeirrt waren – mein erster Eindruck war jedenfalls Enttäuschung. Sie sah so unscheinbar aus. Eine dieser weiten Hosen mit aufgesetzten Taschen, ein weißes T-Shirt, kurze hellbraune Haare, verwuschelt, als hätte sie vergessen, sie nach dem Waschen zu kämmen. Ich weiß noch, wie ich dachte: Was, dieses Kind?
Sie sprang auf, als Maria Kingsley sie ansprach, und ließ sich von ihr umarmen, zog sich jedoch schnell zurück. Man spürte sofort eine Spannung zwischen den beiden. Maria legte ihr eine Hand auf die Schulter, und sie setzten sich nebeneinander auf die rechte Bank. Maria Kingsley drehte sich zu ihr um und stützte den Arm auf die Rücklehne. Sofort rutschte sie weiter bis ans Ende der Bank und stellte den linken Fuß auf den Sitz, das Bein angewinkelt: eine Schranke zwischen ihr und der Chefin.
Kein Zweifel, die beiden hatten sich gestritten.
Ich setzte mich ihnen gegenüber. Zwischen Maria Kingsley und mir lag ein aufgeschlagenes Notizbuch auf dem Holztisch. Der Wind blätterte durch die Seiten. Maria Kingsley schlug es zu, und ich erinnere mich genau, wie behutsam sie vorher die Seiten glattstrich. Es verriet mehr über die beiden als alles, was sie mir je erzählten.
Unter dem Notizbuch hatte ein loses Blatt gelegen. Als sie das Buch zu Dhanavati hinschob, wehte es vom Tisch. Dhanavati versuchte es zu greifen, doch es flatterte unter der Bank hindurch und davon.
Mit schnellen, sparsamen Bewegungen stand sie auf, stieg mit dem einen Fuß auf den Sitz, mit dem anderen auf die Lehne, balancierte einen Sekundenbruchteil dort oben und sprang auf der anderen Seite hinunter.
Da erkannte ich sie. Dieselbe Haltung. Dieselbe völlige Gewissheit, dass sie nicht stürzen würde. Es hatte nichts Akrobatisches an sich. Im Gegenteil, es wirkte selbstverständlich und beiläufig, wie unsereins über eine Pfütze hinwegsteigt, fast ohne es zu bemerken.
Sie lief dem Notizzettel nach, faltete ihn und steckte ihn in die Hosentasche. Dann kam sie zurück.
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