Visby: Roman (German Edition)
Autofahrer, die in dieselbe Richtung wollten wie wir, mussten es ausbaden.
Nach der Hälfte der Strecke hatte sie endlich genug davon, ihren Ärger mit dem Gaspedal abzureagieren, und ließ mich ans Steuer. Eine Weile vergnügte sie sich noch damit, mir Anweisungen zu geben oder meinen Fahrstil zu kritisieren. Dann telefonierte sie mit ihrer Sekretärin. In der Gegend von Göttingen wurde sie plötzlich gesprächig und erzählte mir, dass ihr Vater Pazifist war und während der Nazizeit emigrieren musste. Er ging nach London, änderte seinen Namen von Königer zu Kingsley und schwor sich, nie wieder deutschen Boden zu betreten. Nach ihrem Tonfall zu urteilen, hätte man glauben können, dass ich persönlich daran schuld war.
Immerhin erfuhr ich auch einige Dinge über die Beziehung zwischen ihr und Dhanavati, die sich später als hilfreich erwiesen. Maria Kingsley hatte in Göttingen Medizin studiert – offenbar war sie doch neugierig auf das Land gewesen, in dem ihr Vater seine Kindheit verbracht hatte. Beim Studium lernte sie Dhanavatis Onkel Robert kennen, und obwohl Robert Reinerts anschließend in seine Heimatstadt zurückkehrte, während sie für viele Jahre nach Afrika ging, blieben die beiden in Verbindung. Wann immer Maria Kingsley in Deutschland war, besuchte sie die Reinerts. Angeblich war sie diejenige gewesen, die begriff, wie intelligent das kleine Mädchen war, das bei ihnen aufwuchs. »Die Tochter von Roberts Schwester. Unehelich. Er und seine Doris hätten sie am liebsten im Keller versteckt. Ich habe dafür gesorgt, dass sie in ein Internat kam. Das haben sie mir bis heute nicht verziehen.«
Kurz hinter Göttingen lotste sie mich von der Autobahn. Ich bat sie, die Route nach Marsberg im Straßenatlas nachzuschlagen – ein Navigationssystem gab es in ihrem Auto natürlich nicht –, aber das fand sie unnötig, sie kannte die Strecke schließlich. Wir landeten geradewegs in einer verstopften Kleinstadt. Jede Straße führte nach hundert Metern auf eine Brücke. Zwei Mal mussten wir umkehren, weil wir den falschen Fluss überquert hatten. Nachdem wir eine halbe Stunde im Stau verbracht hatten, schafften wir es schließlich bis aufs freie Land, und dort verfuhren wir uns endgültig. Nichts sah mehr so aus wie früher, keins der Dörfer war im Straßenatlas zu finden. Jedenfalls fand Maria Kingsley sie nicht. Im Auto war es inzwischen heiß geworden – die Sonne brannte aufs Dach, und von einer Klimaanlage konnte man nur träumen. Ich fuhr stur geradeaus, bis wir zu einem Ort kamen, der aus mehr als drei Häusern bestand, hielt an, nahm ihr den Atlas aus der Hand und suchte den kürzesten Weg zur Bundesstraße.
In Marsberg irrten wir noch einmal umher, weil Maria Kingsley das Haus der Reinerts nicht erkannte, aber dann standen wir endlich vor der richtigen Tür. Ich klingelte. Es öffnete niemand.
Inzwischen war auch meine Laune nicht mehr die beste. Zum Glück für uns beide konnte uns eine Nachbarin sagen, dass Doris Reinerts im Haus ihres Schwiegervaters in Henglinghausen war: ein Stück den Berg hinauf, ein enges Tal entlang, einmal links abbiegen, dann war man da.
Diesmal mussten wir nicht lange suchen. Dorfstraße 27, das drittletzte Grundstück in dem winzigen Ort. Ein altes westfälisches Bauernhaus, in den Siebzigern gnadenlos modernisiert, und jetzt ging es ihm wieder an den Kragen. Am Straßenrand stand ein Baucontainer, im Vorgarten lag ein zertrümmertes Waschbecken.
Als ich ausstieg und die Vortreppe hinaufging, wurde die Tür von innen geöffnet. Die Arztgattin trat heraus. Um die fünfzig, übergewichtig und rot im Gesicht. Offensichtlich war sie im Begriff zu gehen. Ich sprach sie an. Sie kehrte mir erst einmal den Rücken zu und schloss ab, dann warf sie einen zutiefst misstrauischen Blick auf das Auto mit dem ausländischen Kennzeichen. Nein, ihre Nichte sei nicht da. Nein, sie wisse auch nicht, wo sie sei, vielleicht in Marsberg im Hotel? Oder essen. Oder im Wald spazieren – sie verriet einem ja nie, was sie vorhatte …
Da endlich stieg Maria Kingsley aus. Sie machte sich nicht die Mühe, zu uns herüberzukommen, aber sie trat so weit hinter der Autotür hervor, dass die Arztfrau sie gut erkennen konnte. »Hello, Doris.«
Doris erstarrte. »Maria.« Ihre Stimme war plötzlich eine Oktave höher. »Was machst du denn hier?«
»Wir wollen zu Dhanavati. Wo steckt sie denn?«
Bei keiner späteren Gelegenheit habe ich erlebt, dass sie Dhanavatis vollen Vornamen benutzte.
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