Visby: Roman (German Edition)
kehrte zum Picknicktisch zurück. Die Frauen blickten mir entgegen. Maria Kingsley schien tatsächlich erleichtert, dass ich dazukam, das Gespräch war für sie wohl nicht sehr günstig verlaufen. Dhanavati vergaß mich augenblicklich wieder, stützte erst den linken, dann den rechten Fuß gegen die Tischkante und band die Schnürsenkel, stand auf und griff nach dem Notizbuch. »Ich habe Hunger. Bis später.«
Diesmal stieg sie nicht über die Lehne, sondern ging um die Bank herum und davon, in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Maria Kingsley blieb sitzen. »Neuigkeiten?«
»Nichts Wichtiges. Wo will sie denn hin?«
»Essen. In Marsberg, nehme ich an. Hier gibt es jedenfalls keine Lokale.«
»Ich denke, sie hat kein Auto?«
»Sie wird wohl zu Fuß gehen. Durch den Wald ist das nicht weit. Eine Stunde, eineinhalb.«
Ich sah ihr nach. Sie verschwand gerade hinter einigen Büschen. Lass sie nicht aus den Augen. Aber ich konnte ihr kaum durch den Wald nach Marsberg folgen. Maria Kingsley würde wissen, in welchem Hotel sie übernachtete. Und Marsberg war klein. Ich konnte sie gar nicht ganz aus den Augen verlieren.
Maria Kingsley stemmte sich in die Höhe. »Fahren wir zum Hotel.«
Sie ging langsam, als täten ihr die Füße weh. Hinter der Wegbiegung kam Dhanavati wieder in Sicht, eine hell gekleidete, schmale Gestalt.
»Und, ist der Streit beigelegt?«
Maria Kingsley blickte verärgert. Sie fand wohl, dass mir die Frage nicht zustand, aber ich hatte keine Lust, all die Stunden bis zur Rückkehr nach Århus so zu tun, als wäre ich taub und blind.
»Vielleicht wäre es mir gelungen«, sagte sie schließlich, »wenn Sie nicht dabei gewesen wären.«
»Das hätte sich ganz leicht verhindern lassen. Sie hätten mir nur erzählen müssen, dass Sie ohne ihr Wissen über ihre Zukunft verhandelt haben. Seit Monaten. Und dass Sie ihr das erst einmal schonend beibringen müssen, bevor ich damit herausplatze. Das hätte ich schon verstanden. Dann wäre ich vermutlich gar nicht mitgekommen.«
»Unsinn. Sie hätten doch immer noch herausfinden müssen, wer diesen Artikel geschrieben hat. Diesen völlig unwahren Artikel.«
Wie viel Wut in diesem Nachsatz lag. So viel, dass ich einen Moment lang überlegte, ob sie den Artikel verfasst hatte. »Wenn Sie eine so schlechte Meinung von uns haben«, sagte ich, »wieso arbeiten Sie dann mit uns zusammen?«
Natürlich hätte ich den Mund halten sollen. Wir waren beide müde, dazu hatte sie sich mit ihrem Patenkind zerstritten und war sicherlich nicht in der Stimmung, sich von einem Außenseiter anzuhören, dass es ganz allein ihre Schuld war. Aber ich war eben auch verärgert. Schließlich verdankten wir ihrer Geheimniskrämerei nicht nur eine völlig überflüssige Autofahrt – ihretwegen musste ich mich auch mit der absurden Frage befassen, ob ihr Patenkind in den internationalen Waffenhandel verstrickt war.
Aber natürlich trug mir mein Ärger nur einen Vortrag ein. Maria Kingsley blieb stehen und fixierte mich mit kaltem Blick. »Wissen Sie, wie viel von meinem Etat übrig wäre, wenn ich nicht bei EuroShield mitmachte? Genau die Hälfte. In Afrika sterben jährlich eine halbe Million Menschen an Tuberkulose, weil es nicht genug Medikamente gibt, weil das Personal zu schlecht ausgebildet ist, weil niemand den Leuten erklärt, dass sie die Tabletten auch dann weiter einnehmen müssen, wenn es ihnen besser geht, weil die Leute von Flüchtlingslager zu Flüchtlingslager ziehen und weil sie sowieso schon AIDS haben, so dass ihr Körper einer Infektion nichts entgegenzusetzen hat … In der EU sind es jährlich 8000 Menschen. Aber wenn ich ein Forschungsprogramm durchsetzen will, bei dem wirklich epidemiologisch gearbeitet wird – nicht nur Neuerkrankungen und Tote gezählt –, dann bekomme ich zu hören, ich sollte mich doch wenigstens auf Asien und Osteuropa konzentrieren, weil uns von dort die größte Gefahr droht. Nicht von Afrika. Wen interessiert denn, was in Afrika passiert. – Und dann kommt jemand wie Ihr Chef und bietet mir an, seinen Konsortiumsgenossen zu erklären, dass Afrika auch nicht auf einem anderen Stern liegt – vorausgesetzt, er bekommt etwas dafür. Er hat mir nicht nur meine Datensammlung abgehandelt und mein kleines, kluges mathematisches Forschungsprojekt – er hat mich auch um das Vertrauen von zwei Mitarbeitern gebracht, an denen mir sehr viel liegt. Also tun Sie mir jetzt wenigstens den Gefallen und halten Sie mir nicht noch
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