Visby: Roman (German Edition)
Organisationen besaß, dass sie dank ihrer Kontakte zu afrikanischen Kliniken im Laufe der Jahre eine erstklassige Datensammlung zusammengetragen hatte, vor allem auf ihrem Spezialgebiet Tuberkulose, aber auch zu den sogenannten hämorrhagischen Fiebern – und dass sie diese Daten als ihren Privatbesitz betrachtete. Unser Direktor verhandelte seit Monaten mit ihr über die Zugriffsrechte, bislang ohne Erfolg.
Für mich gab es nun zwei Möglichkeiten. Ich konnte das Problem an den Sicherheitsbeauftragen des AIMSEP weiterleiten – falls es so jemanden gab –, oder ich konnte selbst nach Århus fahren. Die zweite Variante zog ich entschieden vor. Aber natürlich musste ich die Reise mit unserem Direktor und mit Maria Kingsley abklären.
Ulrich Frohnert war an eben diesem Sonntag zu der Tagung nach Sennewitz abgereist. Steffen Wiebecke begleitete ihn, und von ihm wusste ich, dass Maria Kingsley auch teilnehmen würde. Ich hielt das für eine gute Gelegenheit. Also packte ich meine Tasche, fragte im Tagungshotel an, ob noch ein Zimmer frei war, brachte am Montagvormittag meinen Schreibtisch in einen Zustand, in dem ich ihn einige Tage allein lassen konnte, stieg ins Auto und fuhr los.
ÅRHUS/MARSBERG
23. BIS 27. AUGUST
Fünf Tage später saß ich wieder im Auto, diesmal als Beifahrer neben Maria Kingsley, auf der Fahrt von Århus nach Westfalen.
Bis nach Århus zu gelangen, war schwieriger gewesen, als ich erwartet hatte. Unser Direktor war keineswegs begeistert, als er erfuhr, dass ich ausgerechnet am AIMSEP nach blind seer suchen wollte. Nur wenige Tage zuvor hatte noch die Zukunft des IAI davon abgehangen, dass ich die undichte Stelle fand. Jetzt war es plötzlich nicht mehr so wichtig. Wie ich später von Steffen erfuhr, hatte Frohnert am zweiten Abend der Tagung eine wahre Schlacht mit Maria Kingsley ausgefochten und ihr schließlich abgerungen, dass Steffens Arbeitsgruppe freien Zugang zu den Datensammlungen des AIMSEP bekam. Offensichtlich war er nicht versessen darauf, erneut ihren Zorn auf sich zu ziehen.
Am Ende setzte ich mich trotzdem durch. Steffen hatte mir nämlich auch erzählt, dass unser Direktor eine Mathematikerin des AIMSEP zu Steffens Projektgruppe ans IAI holen wollte – eben jene Mathematikerin, von der der neue Ansatz bei den Epidemiemodellen stammte, mit dem sich die Gruppe seit kurzem befasste. Also wies ich Frohnert darauf hin, dass wir es uns nicht leisten konnten, eine Mitarbeiterin an Bord zu holen, die möglicherweise schon einmal vertrauliche Informationen ausgeplaudert hatte. Das Argument schmeckte ihm nicht. Aber er gab nach.
Bei der Mathematikerin – muss ich das extra erwähnen? – handelte es sich um Dhanavati. Sie war immer noch nicht verdächtiger als jeder andere am AIMSEP . Aber sie war wichtiger geworden. Was immer ich über die übrigen Mitarbeiter herausfand, bei ihr musste ich sicher sein, dass sie nichts mit blind seer zu tun hatte.
Wie Frohnert es schaffte, Maria Kingsley dazu zu bewegen, dass sie mich an ihrem Institut herumschnüffeln ließ, habe ich nie erfahren. Am Freitag nach der Konferenz flogen Steffen und ich mit ihr nach Århus: Steffen, um sich in die Datenbanken des AIMSEP einweisen zu lassen, ich angeblich, um ihn zu unterstützen. Maria Kingsley verkraftete meine Anwesenheit, indem sie mich ignorierte. Wir wechselten während des ganzen Flugs kein Wort.
In Århus fand ich schnell heraus, weshalb Frohnert – und auch Steffen – so großen Respekt vor ihr hatten. Bis dahin hatte sie mich nicht sonderlich beeindruckt. Klein, rundlich, unordentliche schwarze Haare, die mit Grau durchzogen waren, ein Kostüm, das schon beim Abflug zerknittert war. Wäre es nicht so offensichtlich gewesen, dass Frohnert – und Steffen – Angst vor ihr hatten, hätte ich sie als mürrisches Muttchen abgehakt. Aber ihr Institut hatte sie vorbildlich im Griff. Sie brauchte genau fünfundzwanzig Minuten, um ihre Post durchzusehen und mit ihrer Sekretärin zu sprechen, die Mitglieder ihrer IT -Gruppe zusammenzurufen und ihnen mitzuteilen, dass die Arbeit an den Epidemiemodellen ganz ans IAI verlagert werden sollte und dass Steffen Wiebecke die technische Umsetzung mit ihnen durchsprechen würde. Sie erklärte ihnen auch, dass dafür die Finanzierung der übrigen Projekte langfristig gesichert war. In der folgenden Debatte stellte niemand ihre Entscheidungen auch nur mit einem Halbsatz in Frage. Es war offensichtlich, dass ihre Leute ihr vertrauten.
Dhanavati war zu
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